Zero-Discrimination-Day-2024

Zero Discrimination Day – gemeinsam gegen Diskriminierung von Menschen mit HIV

1. März 2024

Trotz Fortschritten in der Medizin und eines gesteigerten Bewusstseins in der Gesellschaft erleben HIV-positive Menschen in der Schweiz nach wie vor Diskriminierung. Zum Zero Discrimination Day am 1. März startet die Aids-Hilfe Schweiz auf Positive Life eine Kampagne zur Bekämpfung von Diskriminierung.

Text: Predrag Jurisic/Aids-Hilfe Schweiz
Beitragsbild: Aids-Hilfe Schweiz

 

Zero-Discrimination-Day-2024

Zero Discrimination Day 2024 – gemeinsam gegen Diskriminierung von Menschen mit HIV.

 

Im Jahr 2014 haben UNAIDS und die Vereinten Nationen den Zero Discrimination Day ins Leben gerufen – als Zeichen gegen Diskriminierung von Menschen mit HIV. Der jährlich am 1. März stattfindende Tag soll weltweit auf die Problematik aufmerksam machen und zum Kampf gegen Diskriminierung aufrufen.

Leider sind auch in der Schweiz Diskriminierungen von Menschen mit HIV immer noch weit verbreitet. Dies zeigen die Diskriminierungsmeldungen, die die Aids-Hilfe Schweiz im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit sammelt. Im Jahr 2023 gingen bei der Aids-Hilfe Schweiz 94 Diskriminierungsmeldungen ein. Die meisten davon stammen aus dem Gesundheitswesen:

Diskriminierungsmeldungen von Menschen mit HIV 2023

Diskriminierungsmeldungen von Menschen mit HIV 2023.

Alle Zahlen und Fakten zu Diskriminierungsmeldungen für das Jahr 2023 finden sich im aktuellen Diskriminierungsbericht der Aids-Hilfe Schweiz.

 

Kostenlose Rechtsberatung für Menschen mit HIV

HIV-positive Menschen können sich gegen die Diskriminierungen wehren – mithilfe der kostenlosen Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz. Die Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz klärt ab, informiert, berät und vermittelt – ob bei Diskriminierungen im Gesundheitswesen, bei der Arbeit oder bei Privatversicherungen.

Mehr zur kostenlosen Rechtsberatung für Menschen mit HIV.

Schweigen Sie nicht, wenn Sie diskriminiert werden, und melden Sie, was vorgefallen ist. Ihre Anfrage wird streng vertraulich behandelt. Die Dienstleistung der Aids-Hilfe Schweiz ist kostenlos.

Das Beratungsteam ist an folgenden Tagen für Sie da:
Dienstag, 9–12 Uhr und 14–16 Uhr
Donnerstag, 9–12 Uhr und 14–16 Uhr

Telefon: 044 447 11 11
Fax: 044 447 11 12
E-Mail: recht@aids.ch
Postadresse: Aids-Hilfe Schweiz, Freilagerstrasse 32, 8047 Zürich

 

Positive Life setzt zum Zero Discrimination Day ein Zeichen

Positive Life ist eine Plattform für Information und Austausch zum Leben mit HIV – von, mit und für Menschen mit HIV. Die Trägerin dieser Plattform ist die Aids-Hilfe Schweiz. Zum Zero Discrimination Day setzt Positive Life ein Zeichen mit einer Kampagne und einem Video:

 

Schweigen Sie nicht, wenn Sie diskriminiert werden, und melden Sie sich bei der Aids-Hilfe, was vorgefallen ist:

Telefon: 044 447 11 11
Fax: 044 447 11 12
E-Mail: recht@aids.ch
Postadresse: Aids-Hilfe Schweiz, Freilagerstrasse 32, 8047 Zürich

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

Unterstützung für HIV-Betroffene: Fachstelle für Aids- und Sexualfragen.

Ich bin HIV-positiv. Was muss ich darüber wissen?

Nach der Diagnose «HIV-positiv» ist eine ärztliche Betreuung wichtig. Bei rechtzeitiger Behandlung und erfolgreicher Therapie haben HIV-positive Menschen eine normale Lebenserwartung. Denn die HIV-Therapie fördert sowohl die Gesundheit als auch die Lebensqualität. Ferner verhindert die wirksame Therapie die Übertragung von HIV auf andere Sexualpartner*innen.

Trotz medizinischer Fortschritte bringt ein Leben mit HIV auch Ablehnung und Diskriminierung mit sich. Darum ist es wichtig, ein Augenmerk auf die psychische Gesundheit der Betroffenen zu legen.

Darüber hinaus gilt es, der Gesellschaft aktuelles Wissen zur HIV-Infektion und zur HIV-Therapie zu vermitteln. Durch dieses erweiterte Wissen und durch den persönlichen Kontakt zu HIV-positiven Menschen lassen sich Vorurteile abbauen, sodass HIV im gemeinsamen Alltag keine Rolle mehr spielt.

Unterstützung für HIV-Betroffene bietet die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen in Kooperation mit einem Netzwerk aus Fachleuten und Anlaufstellen.

HIV-positiv: Medizinische Aspekte

HIV im Alltag


Diagnose «HIV-positiv»

Abgekürzt steht HIV für «Human Immune Deficiency Virus» – auf Deutsch: menschliches Immunschwäche-Virus. Das HI-Virus greift das menschliche Immunsystem an und schwächt es. Erst nach einem HIV-Bestätigungstest ist die Diagnose «HIV-positiv» zuverlässig.

Ohne Behandlung breitet sich das Virus unbeschränkt im Körper aus. Es zerstört dabei das Immunsystem so stark, dass sich dieses nicht mehr sicher gegen Krankheitserreger wehren kann. Das führt letztlich zu Aids und später zum Tod. Verhindern lässt sich das mit einer HIV-Therapie, bei der die Medikamente das Virus kontrollieren.

Obwohl HIV bis heute nicht heilbar ist, erholt sich das Immunsystem dank der HIV-Therapie relativ gut. Die Gesundheit bleibt somit geschützt. Die Krankheit Aids bricht nicht mehr aus. HIV-positive Menschen haben dank ihrer HIV-Therapie eine normale Lebenserwartung. Ausserdem sind HIV-positive Personen unter erfolgreicher Therapie nicht ansteckend. Sie geben das Virus bei ungeschütztem Sex nicht mehr weiter.


Verlauf einer HIV-Infektion

Das HI-Virus schwächt das Immunsystem. Geschieht dies über einen langen Zeitraum, kann das Immunsystem Krankheitserreger nicht mehr richtig bekämpfen. Es wird anfällig. Dies kann zu lebensbedrohlichen Erkrankungen führen. In diesem Fall ist die Rede von Aids. Aids ist die Abkürzung für Acquired Immune Deficiency Syndrome (= erworbenes Abwehrschwächesyndrom).

Phasen der HIV-Infektion

Wer sich nach einer HIV-Infektion nicht behandeln lässt, durchläuft von der Ansteckung mit dem HI-Virus bis zum Ausbruch von Aids drei Phasen. Die Dauer der einzelnen Phasen ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hängt von der jeweiligen Grundkonstitution ab. Demnach können zwischen der Infektion und dem Auftreten erster Symptome wenige Monate bis fünfzehn Jahre vergehen. In dieser Zeitspanne – auch Inkubationszeit genannt – leben HIV-positive Menschen ganz ohne Beschwerden.

 

Stadium 1: Primo-Infektion (= akute HIV-Infektion)

In den ersten Wochen nach der Infektion erhöht sich die Virenzahl rasant. Dabei treten oft Symptome wie bei einer Erkältung oder einer leichten Grippe auf: Fieber, Hautausschlag, Müdigkeit, Kopfschmerzen. Viele Betroffene und auch viele Ärzt*innen bemerken diese Symptome gar nicht oder bringen sie nicht mit einer HIV-Infektion in Zusammenhang. Während der Primo-Infektion ist die Übertragungsgefahr wegen der hohen Virenlast besonders gross.

Nach einigen Wochen verschwinden die Krankheitszeichen spontan, weil das Immunsystem auf den Angriff der HI-Viren reagiert hat. Danach ist der Verlauf der HIV-Infektion zunächst nicht weiter auffällig.

 

Stadium 2: Latenzphase (HIV-Infektion ohne oder nur mit allgemeinen Symptomen)

HIV-positive Menschen leben über Jahre hinweg überwiegend beschwerdefrei. Dennoch vermehrt sich das HI-Virus unbemerkt und belastet das Immunsystem dauerhaft. Dies führt zu einer chronischen Schwächung des Immunsystems. Ab einem bestimmten Punkt ist es nicht mehr in der Lage, sich ausreichend gegen Krankheitserreger zu wehren. Nun zeigen sich häufiger Anzeichen einer Immunschwäche – von Hauterkrankungen über andauernde Lymphknotenschwellungen bis hin zum starken Nachtschweiss sowie weiteren Symptomen.

 

Stadium 3: Aids

Aids ist nicht gleich HIV. Aids steht als Abkürzung für «Acquired Immune Deficiency Syndrome» – übersetzt ist Aids eine erworbene Schwäche des Immunsystems. Treten im Verlauf einer HIV-Infektion bestimmte Kombinationen von Krankheiten auf, ist die Rede von Aids. Im Stadium von Aids ist das Immunsystem stark beeinträchtigt. Es kann schwere, lebensbedrohliche Krankheiten nicht mehr verhindern.

Das Spektrum dieser Krankheiten ist gross: Krebserkrankungen, Lungenentzündungen oder Infektion der Speiseröhre mit dem Hefepilz Candida albicans. Nach dem Ausbruch von Aids sinkt die Lebenserwartung ohne Behandlung auf wenige Monate bis drei Jahre. Wird eine HIV-Infektion rechtzeitig erkannt, lässt sich Aids heutzutage mit Medikamenten oft verhindern. Ebenso bringen HIV-Medikamente Aids definierende Krankheiten unter Kontrolle.


HIV-Therapie

Auch wenn HIV noch nicht heilbar ist, so gibt es wirksame Medikamente in der Therapie. Mit ihnen führen HIV-positive Menschen ein normales Leben. Auch ihre (Sex-)Partner*innen sind vor einer Ansteckung geschützt: HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie sind nämlich nicht ansteckend.

Eine erfolgreich therapierte HIV-Infektion gilt heute als chronische Krankheit. Um die Gesundheit zu erhalten und die Lebensqualität zu fördern, ist es wichtig, möglichst rasch nach der Diagnose mit der HIV-Therapie zu starten.

Eine HIV-Therapie – auch hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) genannt – besteht in der Regel aus mindestens drei verschiedenen Wirkstoffen. Erst die Kombination verschiedener HIV-Medikamente wirkt ausreichend, da das HI-Virus schnell Resistenzen entwickeln kann. Diese Kombinationstherapie muss ein Leben lang erfolgen. Die aktuell verfügbaren HIV-Medikamente stoppen die Virusvermehrung in den Zellen des Immunsystems wirksam und senken die Viruslast. Allerdings ist bis heute keine vollständige Heilung möglich.

Vorteile der HIV-Therapie

Die HIV-Therapie verbessert den Gesundheitszustand, die Lebensqualität und Lebenserwartung von HIV-positiven Menschen markant. Eine wirksame Therapie gilt heute als Schutz vor eine HIV-Ansteckung. Das heisst: Erfolgreich therapierte Personen geben das Virus bei ungeschütztem Sexualverkehr nicht mehr weiter. Betroffene können ganz natürlich Kinder zeugen und gebären.

 

Nebenwirkungen der HIV-Therapie

Wie bei allen Medikamenten können auch bei der HIV-Therapie Nebenwirkungen auftreten – wie zum Beispiel Übelkeit, Durchfall oder Schlafstörungen. In den meisten Fällen geschieht dies während der ersten Wochen nach dem Therapiestart. Danach klingen die Nebenwirkungen meistens wieder ab. Manchmal muss ein HIV-Medikament durch ein anderes, verträglicheres ersetzt werden.

In der Arzneimitteltabelle für antiretrovirale Substanzen (HIV-Medikamente) finden Sie alle derzeit in der Schweiz zugelassene HIV-Medikamente, inkl. Dosierungsempfehlungen sowie relevanter Nebenwirkungen.

 

Compliance: Therapietreue bzw. Einhalten der Therapievorgaben

Damit die HIV-Therapie erfolgreich und wirksam ist, erfordert es eine hohe Therapietreue, die sogenannte Compliance: Die Einnahme der HIV-Medikamente muss konsequent und gemäss ärztlicher Verordnung ein Leben lang erfolgen. Für manche Personen ist es nicht einfach, die Therapieanforderungen zu erfüllen. Ist die Therapietreue mangelhaft, beeinträchtigt dies die Wirksamkeit der Medikamente stark und begünstigt die Entwicklung von HIV-Resistenzen gegen die eingesetzten Medikamente.

Manchmal gibt es Umstände, die es erschweren, die Medikamente über eine längere Zeit richtig einzunehmen. Ist das der Fall, können behandelnde Ärzt*innen bei Schwierigkeiten hilfreiche Tipps geben. Auch können sie die Therapie so verändern, dass sie sich besser in den Alltag integrieren lässt. Voraussetzung dafür ist, Schwierigkeiten im Umgang mit der Therapie zu kommunizieren.


Co-Infektion: leichtere HIV-Übertragung durch andere STI

HIV lässt sich bei ungeschütztem Sex leichter übertragen, wenn bereits eine sexuell übertragbare Infektion (STI) vorliegt. Grund dafür sind Entzündungen und kleine Verletzungen, insbesondere auf den Schleimhäuten, die durch die STI verursacht werden können. Diese bleiben oft unbemerkt und bilden einen Weg, über den HIV leichter in den Körper eindringen kann. Wegen der Reizungen wandern zudem verstärkt Immunzellen in die betroffenen Schleimhäute. Weil das HI-Virus die körpereigenen Abwehrkräfte befällt, wird dadurch eine Aufnahme von HIV wahrscheinlicher.

Leichtere HIV-Übertragung bei vorhandenen STI

Wer HIV-positiv und noch nicht in Behandlung ist, steckt andere Menschen leichter mit dem HI-Virus an. Ebenso bei einer zusätzlich vorhandenen Geschlechtskrankheit: Die meisten anderen Geschlechtskrankheiten (STI) können Schleimhäute im Genitalbereich entzünden. Damit entstehen ideale Ein- und Austrittspforten für HIV.

Bei einem akuten Genitalherpes beispielsweise ist das HIV-Übertragungsrisiko bis zu 16-mal, bei einer Syphilis-Infektion 3- bis 5-mal höher. Liegt also eine zusätzliche Geschlechtskrankheit vor, sind HIV-positive Menschen ohne Therapie deutlich ansteckender. Ferner sind Menschen mit HIV wegen ihres geschwächten Immunsystems anfälliger für die Infektion mit anderen Geschlechtskrankheiten.

 

Behandlung von STI

Wer sich als HIV-positiver Mensch mit einer anderen Geschlechtskrankheit infiziert, hat oftmals einen komplizierteren Verlauf. Auch lässt sich die Infektion weniger leicht als bei HIV-negativen Menschen behandeln. Spezielle Herausforderungen ergeben sich nämlich für HIV-positive Personen bei den Therapien der Geschlechtskrankheiten: Die STI-Therapien gilt es, wegen möglicher Wechselwirkungen auf die HIV-Therapie abzustimmen. Geschlechtskrankheiten nehmen bei HIV-positiven Menschen zudem oft einen anderen Verlauf als bei HIV-negativen. Einige Geschlechtskrankheiten (wie etwa Chlamydien) erfordern zudem eine längere Behandlungsdauer.


#undetectable: HIV-positiv und nicht ansteckend

Befolgen HIV-positive Menschen ihre HIV-Therapie nach Plan und ist ihre Virenlast nicht mehr nachweisbar, sind sie nicht mehr ansteckend. Sie können also Sex ohne Kondom und ohne PrEP praktizieren, ohne zu befürchten, ihre*n Partner*in anzustecken.

Therapie als Schutz

Dass Kondome eine HIV-Infektion verhindern, ist längst bekannt. Seit einigen Jahren ist auch die Schutzmöglichkeit durch HIV-Medikamente medizinisch anerkannt. Wie Studien nachgewiesen haben, senkt eine konsequent eingehaltene HIV-Therapie die Virusmenge im Körper so stark, dass sich das Virus beim Sex nicht mehr übertragen lässt.

Dazu müssen drei Bedingungen erfüllt sein:

  • Die Betroffenen nehmen ihre HIV-Medikamente regelmässig ein.
  • Eine Ärztin oder ein Arzt kontrolliert regelmässig die Blutwerte.
  • Die Virusmenge im Blut liegt unter der Nachweisgrenze.

Unter diesen Voraussetzungen kann beim Sex auf das Kondom verzichtet werden. Allerdings schützen die HIV-Medikamente nicht vor der Infektion mit anderen sexuell übertragbaren Krankheiten (STI).


Psychische Gesundheit

Die körperliche und die psychische Gesundheit gehen Hand in Hand. Sie tragen zum ganzheitlichen Wohlbefinden von Menschen bei. Für eine erfolgreiche HIV-Therapie ist die psychische Gesundheit ein zentraler Faktor. Darum ist es wichtig, sich nicht nur um die körperliche Gesundheit zu kümmern, sondern auch Strategien zu haben, die die eigene psychische Gesundheit unterstützen. Aufgrund der heutigen Kenntnisse ist bekannt, dass die Balance zwischen körperlichem und seelischem Wohlbefinden den ganzen Menschen in seinem Wesen positiv beeinflusst.

HIV und Depression

Jede fünfte Person in der Schweiz leidet im Verlauf ihres Lebens an einer Depression. Chronisch kranke Menschen – so auch Menschen mit HIV – sind dabei besonders gefährdet.

Depressionen betreffen meistens den ganzen Menschen. Sie bestehen nicht bloss aus Stimmungstiefs. Sie dauern länger und wirken sich auf den beruflichen Alltag oder auf das Privatleben negativ aus. Demgegenüber existieren heute gute Behandlungsmöglichkeiten. Der wichtigste Schritt aus einer Depression heraus ist es, eine solche überhaupt zu erkennen und professionell behandeln zu lassen.

Faktoren, die bei HIV-positiven Menschen zu einer seelischen Krise führen können, sind beispielsweise medizinische Aspekte wie:

  • der Erhalt des positiven Testergebnisses
  • der Einstieg in die antiretrovirale Therapie
  • die Nebenwirkungen der Therapie

Die Angst vor Ausgrenzung, Stigma und Zurückweisung kann einen zusehends verunsichern und existentielle Ängste hervorrufen. Das wiederum vermindert die Widerstandsfähigkeit (= Resilienz).

 

Wenn Angst den Alltag dominiert

Menschen mit HIV können Ängste entwickeln, die ihren Alltag so beeinflussen, dass sie sich gehindert fühlen. Die Ängste können dabei unterschiedlich sein:

  • Angst vor dem sozialen oder beruflichen Ausschluss
  • Angst vor den Langzeitfolgen der Medikamente oder vor einer Ansteckung mit weiteren Krankheiten
  • Angst, den*die Partner*in anzustecken

Es ist wichtig, achtsam mit sich und den eigenen Gefühlen umzugehen. Nach einer HIV-Diagnose braucht es Zeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen.

In der Partnerschaft gilt es, eine Kommunikation zu entwickeln, die einem zwei Dinge erlaubt: Zum einen, über Ängste und Unsicherheiten zu sprechen; zum anderen aber auch über den vielleicht anderen Umgang mit der eigenen Sexualität.

In solchen Situationen kann es entlastend sein, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sei dies in Form einer Begleitung durch eine Ärztin oder einen Arzt oder in Form eines therapeutischen Settings.


Reden über HIV

Je nachdem, wie sich eine betroffene Person mit ihrer HIV-Diagnose auseinandergesetzt hat, kann sie entscheiden, wem sie von ihrer HIV-Infektion erzählt und wem nicht. Wichtig dabei ist es, auf das innere Gefühl zu hören. Auch kann Ihnen der Leitfaden zur Partnerinformation helfen.

Safer-Sex-Regeln sind zentral

Wer unter wirksamer Therapie ist, wer geschützten Sex praktiziert oder wer seine Sexualpartner*innen über die HIV-Infektion informiert, kann heute nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.

Wer zum Zeitpunkt des ungeschützten Sexualverkehrs keine nachweisbare Viruslast mehr hat, wird strafrechtlich in der Regel nicht mehr belangt. Auch dann nicht, wenn Sie den*die Partner*in vor dem Sexualverkehr nicht über Ihre HIV-Infektion informieren.

Wichtig ist, dass Sie die Safer-Sex-Regeln einhalten. Dies kann auch eine wirksame Therapie sein. Versagt das Kondom und steht eine*r der Partner*in nicht unter wirksamer Therapie, so ist die andere Person über das Übertragungsrisiko zu informieren. So kann diese innert 48 Stunden eine ärztlich begleitete Post-Expositions-Prophylaxe (PEP) in Anspruch nehmen.

 

Rechtzeitig kommunizieren

Oft erfolgt die Infektion mit HIV in festen Partnerschaften. Wer von seiner HIV-Ansteckung nichts weiss, infiziert unwissentlich andere Personen. Darum ist es bei einer HIV-positiven Diagnose zentral, den*die Sexualpartner*in früh zu informieren und eine Weiterverbreitung zu verhindern. Im Leitfaden zur Partnerinformation finden Sie hilfreiche Tipps.

Auch wenn ein*e Partner*in keine Krankheitszeichen hat, sollte er*sie sich unbedingt so früh als möglich testen und behandeln lassen. Im Falle einer HIV-Infektion tragen eine frühe Diagnose sowie ein rechtzeitiger Therapiestart entscheidend zu einer erfolgreichen Behandlung bei.

 

Chancen und Risiken

Gerade in der ersten akuten Krise nach der Diagnose und im Verlauf einer Therapie kann eine Vertrauensperson eine grosse Stütze sein. Das Kommunizieren einer HIV-Diagnose unterliegt dem Datenschutz. Ohne Einverständnis der betroffenen Person darf diese Information nicht weitergegeben werden. Partner*innen sind darauf hinzuweisen, dass die Datenschutzverletzung rechtliche Folgen haben kann.

Ob jemand den*die Partner*in informieren will, ist zunächst eine ganz persönliche Entscheidung. Dennoch sind vorher auch mögliche Konsequenzen abzuwägen: Nicht alle Menschen können mit der Nachricht gleich gut umgehen. Manche sind möglicherweise überfordert, manche ziehen sich zurück. Wer mehr über das Leben mit HIV Bescheid weiss, baut Vorurteile und Ängste ab. Darum kann eine professionelle Partnerschaftsberatung unterstützend sein.

 

HIV-Coming-out: Wie sage ich es den anderen?

Wer sich überlegt, andere Menschen über die eigene HIV-Diagnose zu informieren, sollte sich davor selber mit der Situation gut auseinandergesetzt haben. Dies ermöglicht eine selbstbewusstere Haltung im Umgang mit der Krankheit.

Ob in der Partnerschaft, im Familien- und Freundeskreis oder im Job: Wer um die eigene HIV-Diagnose kein Geheimnis machen muss, geht selbstbewusster und freier damit um. In jedem Fall gilt es auch dort, gut zu prüfen, wie die anderen Personen mit der Information umgehen können. Ebenso am Arbeitsplatz: Denn genau dort geschehen häufig Datenschutzverletzungen, die weitreichende Folgen haben können – sogar bis zur Entlassung. Allerdings ist der Arbeitgeber nicht befugt, nach dem HIV-Status zu fragen oder diese Information weiterzugeben.

Lesen Sie dazu auch die Broschüre «Job und HIV» mit nützlichen Tipps und Anlaufstellen.

Oft jedoch sind beim Antritt einer neuen Stelle Gesundheitsformulare der Versicherungen auszufüllen (Pensionskasse und Krankentaggeldversicherung), sodass eine HIV-positive Diagnose enthalten sein kann. Weil diese Gesundheitsformulare wahrheitsgemäss ausgefüllt werden müssen, lohnt es sich, vorher Abklärungen zu treffen, inwieweit man sich als Betroffene*r vor Diskriminierungen schützen kann.

Hierzu gibt es Rechtsberatungen, die Sie in Anspruch nehmen dürfen:

Aids-Hilfe Schweiz (Rechtsberatung und Diskriminierungsmeldung)

Rechtsratgeber für Menschen mit HIV


Beziehung, Sexualität und Kinderwunsch

Die Diagnose «HIV-positiv» bedeutet nicht, auf Beziehungen und Sex verzichten zu müssen.

Safer-Sex und Therapie

HIV-positive Menschen sind unter einer erfolgreichen HIV-Therapie nicht ansteckend, sofern ihre Virenlast unter der Nachweisgrenze liegt. Damit können sie ungeschützten Sex haben, ohne zu befürchten, jemanden anzustecken. Die Therapie ist eine von verschiedenen Strategien zu Safer Sex .

Der Schutz vor einer möglichen HIV-Ansteckung mit einer HIV-positiven Person liegt in der gemeinsamen Verantwortung beider Partner*innen: Sie entscheiden gemeinsam, wie Sie sich schützen – ob mit Kondomen oder mit der wirksamen HIV-Therapie. Ungeachtet dessen können HIV-positive Personen in der Schweiz, die ungeschützten Geschlechtsverkehr haben, strafrechtlich verfolgt werden.

 

Andere Geschlechtskrankheiten (STI)

Leider schützen die HIV-Medikamente nicht vor der Ansteckung mit anderen Geschlechtskrankheiten. Darum tragen HIV-positive Personen besondere Gesundheitsrisiken im Kontext mit Geschlechtskrankheiten. Mehr zur Co-Infektion.

 

Kinderwunsch

Wer sich Kinder wünscht, muss wegen einer HIV-Infektion nicht auf sie verzichten. Mit der antiretroviralen Therapie sind einerseits die Lebenserwartung und die Lebensqualität von HIV-positiven Menschen stark gestiegen. Andererseits sind die Risiken einer Übertragung auf den*die Partner*in sowie auf das Baby praktisch auf null gesunken.

Mehr dazu

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

Wir geben dieser Krankheit ein Gesicht

17. Mai 2022

Für die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen war Claudia zwanzig Jahre beim Projekt «Menschen mit HIV» im Einsatz. Dabei erzählte sie Schüler*innen aus ihrem Leben mit der Krankheit HIV/Aids. Zum Abschluss ihres Engagements liess sie die letzten zwanzig Jahre Revue passieren.

Interview: Predrag Jurisic
Beitragsbild: pixabay.com

 

40 Jahre HIV/Aids (Bild: pixabay)

40 Jahre HIV/Aids: Claudia (vollständiger Name der Redaktion bekannt) blickt zurück auf das Schulprojek «Menschen mit HIV» (Bild: pixabay.com).

 

Claudia, wie kamst du zum Projekt? 
Zunächst einmal suchte ich die Fachstelle auf, um mich mit HIV-Betroffenen regelmässig auszutauschen. Hier traf ich Menschen, die wie ich die gleichen Probleme hatten und unter dem Stigma der Aids-Epidemie litten. 1992 kam das Schulprojekt «Menschen mit HIV» auf und die Frage, ob ich ein Teil davon sein wollte.   

Die Projektidee fand ich von Anfang an gut: HIV-Betroffene besuchten im Rahmen der Sexualpädagogik Schulklassen. Dort erzählten sie aus ihrem Leben und gaben einen Einblick in den Umgang mit der Krankheit. Ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, dabei mitzuwirken. Doch der Gedanke liess mich nicht mehr los. Ich studierte zwei Jahre darum herum, ob ich das könnte oder überhaupt möchte, bis ich es schliesslich wagte. Als ich vor dem Klassenzimmer stand, wäre ich vor Nervosität lieber im Boden versunken, als dort hineinzugehen.  

Legte sich die Nervosität irgendwann?
Nein, sie legte sich eigentlich nie. Ich war bis zum letzten Einsatz immer nervös im Vorfeld. Ich denke, das muss auch so sein. Denn dann gibt man sich auch Mühe, es gut zu machen. Ich sagte immer: ‹Wenn ich einmal an den Punkt komme, an dem ich meine Geschichte nur noch gleichgültig runterleiere, ist es Zeit, aufzuhören.› Soweit kam es aber nie. Und das Interesse der Schüler*innen und die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten mich in meinem Tun. 

Was bewirkten die Einsätze bei dir?
Vor den Einsätzen hatte ich für Abstand gesorgt, indem ich mich von der Drogenszene abwandte. Erst dieser Abstand ermöglichte es mir, über meine HIV-Diagnose und meine Erlebnisse in der offenen Drogenszene zu reden. Alle Gefühle, die ich all die Jahre verdrängt hatte, kamen beim Erzählen wieder hoch. Aber ich merkte mit der Zeit, dass das sehr heilsam für mich war. Zudem konnte ich junge Menschen – unsere zukünftige Gesellschaft – davor warnen, dasselbe Schicksal zu erleben. So konnte ich dem Staat auch etwas dafür zurückgeben, dass ich IV bekam. Etwas Besseres gab es für mich in meiner Situation gar nicht. 

Wie hat sich das Projekt entwickelt, seit du dabei bist?
Zu Beginn waren bis zu zehn Personen beim Projekt dabei. Danach wurden es immer weniger. Einige starben, einige hatten keine Lust mehr oder wandten sich anderen Dingen zu. Beim Projekt im Einsatz waren hauptsächlich Leute, die aus dem Drogenmilieu oder aus der Schwulenszene stammten. Es gab nur eine Mutter mit HIV-Diagnose, die über ihr Leben mit HIV in Beruf und Familie sprechen konnte. Ansonsten war die Angst zu gross, sich als HIV-positiver Mensch zu outen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben waren allgegenwärtig. Das war einerseits schade, weil HIV und Aids nicht nur in der Drogen- und der Schwulenszene präsent waren. Andererseits war es auch nachvollziehbar, weil die sozialen Konsequenzen enorm waren. 

Warum waren HIV-Betroffene derart stigmatisiert?
HIV bzw. Aids galten damals als eine «Randgruppenkrankheit», die nur Leute betraf, die ein nach damaligen gesellschaftlichen Massstäben «schlechtes» Leben führten. Und deshalb hatten sie es ja irgendwie verdient – das war damals die Haltung: Wer HIV/Aids hatte, war selbst schuld. Bis sich Hausfrauen, Familienväter und die ersten Kinder infizierten. Da musste die Gesellschaft nochmals über die Bücher. Deswegen war es wichtig, möglichst viele Menschen möglichst früh zu informieren, um solche Vorurteile abzubauen. Es ging bei unseren Einsätzen folglich nicht um die Schuldfrage, sondern darum, die Krankheit in den Griff zu bekommen. 

Wie hat dich diese Arbeit geprägt, was konntest du für dich gewinnen?
Dank dieser Arbeit konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten und meinen Platz im Leben und der Gesellschaft neu definieren. Ich stehe zu allem, was geschehen ist, und verurteile nichts und niemanden. Ich bin auch dankbar, dass der Staat viel Gutes in der Drogenpolitik bewirkt hat: Es gibt heute keine offene Drogenszene mehr, die Prävention dank sauberer Spritzen und Drogenabgabestellen funktioniert.  

Soviel Leid diese Krankheit über uns alle brachte, so hat sie mir doch auch die Augen für das Leben geöffnet und mir klargemacht, dass man viel mehr im «Jetzt» leben muss. Jeden Moment, in dem es einem gut geht, sollte man bewusst geniessen und dafür dankbar sein. Und es war Dr. Pietro Vernazza, der einmal zu uns sagte, er fände unser Wirken an den Schulen deshalb so toll, weil wir dieser Krankheit ein Gesicht geben. 

In den 90er Jahren war die Diagnose ganz klar ein Todesurteil, das war jedem bewusst. Es gab Zeiten, da starb jede Woche jemand aus meinem damaligen Umfeld. Es war lediglich eine Frage der Zeit. Deshalb nutzte ich jeden Moment und konnte mit meiner Arbeit viel Gutes tun. 

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Kantonsspital St.Gallen.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist ehemaliger Chefarzt der Infektio- logie am Kantonsspital St.Gallen. Er hat jahrzehntelang zu HIV und Aids geforscht und sich für bessere Bedingungen in der Behandlung, aber auch in der Akzeptanz von HIV-positiven Menschen eingesetzt. Mehr zu seiner Arbeit und zu möglichen Heilungschancen in Zukunft in seinem Interview zum Welt-Aids-Tag 2020. Bild: Christoph Ruckstuhl, NZZ.

 

Welche Momente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir in den Schulklassen immer wieder begegnet ist, ist Bewunderung. Bewunderung dafür, dass ich mich traue, über alles offen zu reden. In der heutigen Gesellschaft wird so viel gelogen. Selten setzt sich jemand einfach mal hin und redet so, wie es wirklich ist. Lügen ist heute Normalität. Und das erschüttert mich! Darum war es für mich auch wichtig, dass mal jemand kommt und die Wahrheit erzählt, auch wenn sie nicht immer schön ist. 

Woran liegt das? 
Die Menschen wollen gut dastehen und ihr Gesicht nicht verlieren oder haben Angst davor, was andere von ihnen denken. Du darfst nicht immer nur darauf achten, was andere von dir denken. Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner von denen. Darum solltest du auf dich, dein Bauchgefühl und dein Herz hören, nicht auf die anderen! 

Was konntest du mit deiner Lebens- und Krankheitsgeschichte den Schüler*innen mit auf den Weg geben?
Ich zeigte ihnen auf, wie wertvoll das Leben ist. Ich sagte ihnen jeweils: «Ihr müsst nicht erst fast sterben, bis ihr den Wert eures Lebens erkennt.» Als Teenagerin wäre ich froh gewesen, wenn jemand in meine Klasse gekommen wäre und uns von seinen*ihren Erfahrungen berichtet hätte. Vielleicht hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen als den der Drogenabhängigen. Damals war der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» aktuell, und dieser Film hat mich sehr beeinflusst. Ich dachte damals «so will ich auch leben». Es faszinierte mich irgendwie. Bis ich selbst soweit war und die Faszination sich längst in eine schwere Abhängigkeit verwandelt hatte. 

Was hat dich beim Anschauen dieses Films so in den Bann gezogen?
Ich war damals ein Teenager. Gerade in dieser Zeit sind Jugendliche oft sehr dünnhäutig und vulnerabel – sprich anfällig für Einflüsse von aussen. Und da damals unsere Familie auseinanderfiel und mein Bruder und ich mit der schwierigen Situation völlig alleingelassen wurden, war ich sehr enttäuscht: über die Familie, aber auch über die ganze Gesellschaft. Ich fühlte mich total im Stich gelassen und fiel in ein bodenloses Loch. Da kamen mir die Drogen wie eine Rettung vor. Rückblickend betrachtet sind Drogen für mich ganz klar ein Liebesersatz. Sie gaben mir – jedenfalls kurzzeitig – die Wärme, die mir fehlte. Aber die Wärme und Liebe der Eltern kannst du nicht durch Drogen ersetzen. Zudem entwickelte ich sehr selbstzerstörerische Züge.  

Und genau darum ging es mir bei meiner Arbeit mit den Schüler*innen: Ich wollte ihnen aufzeigen, dass wir alle mal Situationen erleben, in denen wir vulnerabel und dünnhäutig sind. Und wenn wir dann falsche Entscheidungen treffen, anstatt uns Hilfe zu holen, geraten wir in einen Strudel, der einen schnell weit nach unten ziehen kann. 

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Heute ist die Hauptdroge das Handy, nicht mehr das Heroin. Wenn ich die Schüler*innen bei meinen Einsätzen beobachte, wie sie nach Schulschluss drauf losrennen, finde ich es bedenklich. Dies wird in Zukunft ebenfalls Folgen für die psychische Gesundheit haben. Darum wird auch die Medienkompetenz für die Jungen immer wichtiger. Was sich in Bezug auf die Drogenprävention geändert hat, ist, dass die Drogen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Die Menschen konsumieren mehr privat statt öffentlich. Wir sehen den Konsum nicht mehr, aber er findet dennoch statt. Hier gilt es, eine Art «Safer Drugs Prävention» zu betreiben, um die gravierenden Folgen von Drogen zu minimieren.

Die da wären?
Zum Beispiel erlebe ich, dass junge Leute heute viel mehr Alkohol trinken als damals, als ich weit und breit die Einzige war, die so jung schon so viel trank. Auch Medien haben öfters darüber berichtet. Heute ist das normal geworden, was ich sehr bedenklich finde. Heroin und andere Drogen werden privater konsumiert, aber der Alkoholkonsum ist in der ganzen Gesellschaft präsent: in jedem Restaurant, in der Öffentlichkeit oder in den Läden, in denen Alkohol erhältlich ist. 

Die «Junkie-Kultur», die ich erfahren habe, gibt es so nicht mehr. Auch erlebe ich, dass die meisten neben Alkohol auch Medikamente konsumieren. Und die, die noch Heroin konsumieren, holen es bei der staatlichen Abgabestelle. Da stimmt wenigstens die Qualität, die auf der Strasse sehr viel schlechter geworden ist.  

Ich stelle fest, dass sich die ganze Gesellschaft seit den 90er Jahren sehr verändert hat – auch durch all das Digitale wie Handys und Computer. Aber auch darin, was Respekt, Anstand und Mitgefühl betrifft. Die meisten sind sehr egoistisch geworden. Alles ist so oberflächlich. Und ich spüre richtig, wie es darunter immer schlimmer wird, wie die Leute viel schneller aggressiv und gewaltbereit sind. 

Was hat sich in Bezug auf HIV und Aids verändert?
HIV und Aids sind als Thema von der Bildfläche verschwunden. Ein Grund dafür liegt auch in der besseren medizinischen Behandlung: Heute ist HIV/Aids eine chronische Erkrankung. Die Medizin geht von einer normalen Lebenserwartung aus. Aber wirklich wissen tut das keiner. Es ist meines Wissens nach noch niemand dank Medikamenten 80 Jahre alt geworden, der Aids hatte. Deshalb finde ich, sollten wir als Gesellschaft eine solche Aussage mit Vorsicht geniessen. Zudem meinen viele, Aids sei heute heilbar. Dabei ist die Krankheit nach wie vor tödlich. Sie ist lediglich behandelbar geworden. Ich selbst merke, wie die Krankheit und die Medikamente ihren Tribut fordern. Die Zellen im Körper altern mit HIV und den Medikamenten schneller, als wenn jemand gesund ist und keine HIV-Medikamente zu sich nimmt. 

 

2020 starben weltweit 680‘000 Menschen an Aids. 2010 waren es noch 1,3 Millionen. Parallel infizierten sich weltweit 1,5 Millionen Menschen mit HIV, im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 31 Prozent. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, 73 Prozent von ihnen erhalten Medikamente, 27 Prozent nicht. Das südliche Afrika ist am stärksten betroffen. Auch in Osteuropa und Zentralasien haben dieInfektionen in den letzten Jahren stark zugenommen.

Quelle: Aids-Hilfe Schweiz, Welt-Aids-Tag.de

 

Was gibt es in der HIV-Prävention noch zu tun?
Weltweit natürlich noch viel, besonders in Afrika oder auch in Russland. In der Schweiz funktioniert die Prävention gut. Was ich mir für die Ostschweiz mehr wünsche, ist eine engere Betreuung von HIV-Betroffenen: In Bern/Biel arbeiten beispielsweise die Gassenleute bei der spezifischen Prävention von vulnerablen Gruppen mit. Auch ist die Betreuung im Kleinen stärker: In der Ostschweiz gibt es zwar Anlaufstellen, allerdings bleiben viele Betroffene häufig auf sich alleine gestellt. Eine persönliche Ansprache wäre gut.  

Wie liessen sich HIV-Betroffene in der Ostschweiz persönlicher ansprechen?
Das ist schwierig zu sagen: In unserer Region habe ich immer noch das Gefühl, dass sich die Leute nicht trauen, über ihren HIV-Status zu reden. Sie wollen ihren Status für sich behalten – aus Angst vor Anfeindungen und Mobbing. Deshalb sprechen sie nur mit ihren Ärtz*innen darüber. Es gibt auch heute noch HIV-Betroffene, die es nicht einmal ihrer*ihrem Partner*in sagen.  

Stichwort Stigmatisierung und Diskriminierung: Wo siehst du für HIV-Betroffene im Alltag Hürden bzw. Verbesserungspotenzial?
Ich hatte mal ein negatives Erlebnis in einer Zahnarztpraxis in Ungarn: Kaum hatte ich auf dem Eintrittsformular meinen HIV-Status bekanntgegeben, wurde ich total stehengelassen. Alle anderen im Warteraum kamen an die Reihe, nur ich nicht. Als ich daraufhin den Zahnarzt ansprach, bekam ich zunächst eine faule Ausrede und danach die Aussage, es wäre ihm lieber, mich nicht zu behandeln. Und falls doch, sollte ich irgendeine Erklärung vor der Behandlung unterschreiben, was ich dann nicht tat.  

Zurück im Hotel, das für diese Zahnarztbehandlung mitgebucht war, merkte ich schnell: Meine Aussage beim Zahnarzt hatte ganz schnell die Runde gemacht – und das sowohl bei den Praxis- als auch bei den Hotelangestellten. Sie behandelten mich von einem Moment auf den anderen nur noch mit Verachtung, was mich sehr irritierte. Den Fall meldete ich schliesslich der Aids-Hilfe Schweiz. Denn auch in der Schweiz passieren gerade im medizinischen Bereich solche Diskriminierungen, weil das medizinische Personal zu wenig über die Krankheit und die Behandlung Bescheid weiss. 

 

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

«Die Gesellschaft braucht dringend ein Update bezüglich HIV/Aids», meint Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz. Ihre Aussage bezieht sich auf die nach wie vor andauernde Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV in verschiedenen Alltagssituationen. Mehr dazu im Interview. Bild: Marlyn Manser.

 

Wie lassen sich solche Vorfälle verhindern?
Die Menschen tragen die Welt im Hosensack: Sie können sich über alles informieren oder eben auch nicht. Anstatt sieben Stunden TikTok zu schauen, wäre ein Gespräch mit queeren Menschen oder HIV-Positiven hilfreich. So liessen sich Vorurteile, Klischees und Halb- oder Nichtwissen beseitigen. 

Begegnest du solchen Vorurteilen oder Klischees auch heute noch?
Ja. Die Leute tun sehr tolerant und offen. Ich sage ausser den Schüler*innen niemandem, dass ich im letzten Stadium aidskrank bin. Die, die es wissen müssen, wissen es schon lange. Sobald ich von HIV rede, merke ich, wie die Menschen langsam und möglichst unauffällig von mir Abstand nehmen. Mit wenigen Ausnahmen. Und das sind meist selbst Betroffene. Hier braucht es mehr Wissen darüber, was HIV und Aids heutzutage bedeuten. 

Eine andere Situation erlebte ich bei der Wohnungssuche: Zwar gab sich die Person bei der Wohnungsbesichtigung offen und tolerant, als ich HIV als IV-Grund angab. ‹Es wäre überhaupt kein Problem.› Danach kam eine Absage, weil ein Verwandter die Wohnung bekommen sollte, von dem vorher aber nie die Rede war. 

Das Schulprojekt «Menschen mit HIV» geht zu Ende: Welche Gefühle und Gedanken begleiten dich dabei?
Zum einen sind es sehr freudige Gefühle: Das Projekt war für mich eine sehr tolle und wertvolle Sache. Ich habe etwas bewegt und den jungen Leuten etwas mitgegeben. Auch werde ich die Gefühle nie vergessen, die einzelne Schulklassen mit mir geteilt haben: Als sie beim Erzählen meiner Lebensgeschichte mitgefiebert, mitgeheult und mitgelacht haben. Die letzten zwanzig Jahre waren eine heilsame Zeit für mich. Ich fand mein Plätzchen und lernte die andere Claudia kennen: die Claudia, die überlebt und positiv eingestellte Leute kennengelernt hat.   

Zum anderen aber begleiten mich auch sehr traurige Gefühle: Ich finde es schade, dass dieses wertvolle und wichtige Projekt mit mir zu Ende geht. Viele Schüler*innen fanden, meine Präventionsarbeit sollte in den Lehrplan aufgenommen werden. Aber ich bin dankbar, dass ich noch die Chance und die Kraft bekam, diese Arbeit zu machen. Ich habe sie immer sehr gern getan und gab immer alles. Meine Devise war und ist: Was du tust, das tue richtig. Und ich spürte, dass ich das Richtige tat. Das war, ist und wird immer ein schönes Gefühl bleiben.
 

Wie hast du während der letzten zwanzig Jahre die Entwicklung der Fachstelle erlebt?
Die Fachstelle hat sich extrem verändert: In den 90er Jahren stand die Aids-Hilfe im Vordergrund. Es ging um unmittelbare Hilfe für Leute mit Aids sowie die HIV-Prävention. Später kamen weitere Angebote hinzu wie die Sexualpädagogik oder das COMOUT-Projekt mit Lebensgeschichten aus der queeren Community. Heute geht es mehr um sexuelle Gesundheit bzw. Gesundheit im Ganzen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist viel umfassender als die Präventionsarbeit in den Anfangsjahren. Es ist eine Art von Lebensschulung. Und mehr solcher Lebensschulungen statt nur Algebra und anderer Fächer wären für die Gesellschaft von morgen sehr hilfreich. 

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