Nicht verstecken, sondern glücklich sein

14. Oktober 2014

«Um was geht es heute?», fragt Stephanie in die Runde der Schülerinnen. «Um das Thema Lesbischsein», gibt eines der Mädchen zur Antwort. Genau, sagt Stephanie, die heutige Stunde drehe sich um die Themen Homosexualität und Coming-Out. Ein Besuch beim Schulprojekt COMOUT.

Text: Markus Stehle
Bild: Aids-Hilfe Schweiz

Es ist Mittwochmorgen. Stephanie besucht eine Schulklasse im Rorschacherberg im Rahmen des Schulprojekts COMOUT der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St.Gallen-Appenzell. Gleich zu Beginn der Lektion verteilt Stephanie Zettel und bittet die Mädchen, alles aufzuschreiben, was ihnen zu diesen Themen einfällt. Ein paar Minuten später sitzen die Schülerinnen mit Stephanie in einem Kreis, in der Mitte liegen die Zettel. Darauf stehen Worte und Sätze wie «ganz normal» oder «gute Gesprächspartner». Es sind Stichworte, die Stephanie in einer Diskussionsrunde am Schluss der Stunde aufnehmen und mit den Schülerinnen besprechen wird.

Zuerst klärt sie aber verschiedene Begriffe wie «Intersexualität» zum Beispiel, «Transsexualität», «Regenbogenfamilie» oder «Transvestit». Eifrig melden sich die Mädchen zu Wort und erzählen, was sie wissen. Alles in allem sind sie schon gut informiert, können mit vereinten Kräften etwa die Abkürzung «LGBT» (= Lesbian, Gay, Bisexual, Trans) erklären. Bei einigen Begriffen kann Stephanie mit ihren Schilderungen noch Klarheit schaffen.

 

Homosexualität: weder Krankheit noch Modeerscheinung

Um auf spielerische Art und Weise zusätzliches Wissen zu vermitteln, stellt sie in der Folge mehrere Fragen, die die Mädchen mit ja oder nein beantworten müssen. Ob Homosexualität vererbbar sei, zum Beispiel. Ist Schwul- oder Lesbischsein eine Krankheit? Ist Homosexualität eine blosse Modeerscheinung? «Nein», beantwortet eine der Schülerinnen die letzte Frage, «das ist etwas, das von Geburt an so ist.»

In einem Zimmer nebenan spricht Pascal mit den Knaben der Klasse. Sie diskutieren über Klischees, darüber, wie «typische Schwule und Lesben» aussehen. Alle schauen sie auf die Leinwand, auf welcher Bilder von Jungen und Mädchen projiziert sind. «Was meint ihr», fragt Pascal, «ist dieses Mädchen hier lesbisch oder hetero? Oder dieser Junge hier, könnte der schwul sein?» Die Schüler beraten sich, glauben bei einigen der Fotografien ganz klar zu wissen, dass das Mädchen lesbisch oder der Junge hetero ist.

«Ich weiss es nicht, könnte beides sein», lautet der Kommentar bei einem anderen Bild, «das hätte ich nie gedacht», so das Fazit zu einem weiteren Foto. Die Knaben merken, dass die klassischen Stereotype offenbar nicht immer zutreffen. Danach klärt auch Pascal Wissensfragen – ob Homosexualität wählbar sei, zum Beispiel, oder wie viele Homosexuelle es überhaupt gibt? Und stellt auch die Frage in den Raum, warum es denn so interessant sei, wenn sich ein Profi-Fussballer wie Hitzlsperger outet? Es sei eben noch immer etwas Aussergewöhnliches, ist die Antwort eines Schülers.

 

Stille bei der Coming-out-Geschichte

Als Pascal von seinem eigenen Coming-Out erzählt, wird es still im Raum: Bei ihm habe die Auseinandersetzung mit diesem Thema in der Oberstufe begonnen. In seiner Klasse bildeten sich erste Pärchen, bei ihm sei jedoch lange nichts passiert. «Hm, warum denn nicht?», habe er sich gewundert. Bald einmal hatte er dann eine erste Freundin. Diese Beziehung sei aber «nicht so der Reisser» gewesen: Etwas habe gefehlt.

Pascals Formulierungen sind prägnant, die Jugendlichen können der Erzählung gut folgen. «Irgendwann», fährt er fort, «wurde mir klar, dass ich anders bin als die meisten meiner Kameraden, dass ich auf Männer stehe.» Diese Erkenntnis sei nicht einfach gewesen. Pascal kannte in seinem Verwandten- und Bekanntenkreis keine Homosexuellen – bis er dann in der Kantonsschule einen Mitschüler hatte, der offen schwul war. «Ich fand das unheimlich mutig. Es braucht Mut, so hinzustehen oder?», fragt Pascal.

Die Schüler nicken und hören aufmerksam zu, als er fortfährt. «Warum ich?», habe er sich damals gefragt. «Warum muss gerade ich zu dieser Minderheit gehören? Ich wollte das nicht.» Doch dann habe er gemerkt, dass er kein verstecktes Leben leben, sondern glücklich sein will. Pascal begann, sich zu outen. Zuerst bei seinem besten Freund, der heterosexuell war. Dieser habe es sehr gut aufgenommen, ihm auch angeboten, er könne jederzeit bei seiner Familie übernachten, sollte Pascal zuhause je Probleme haben. «Das hat mir sehr viel bedeutet.»

 

«Was!? Sie dürfen nicht heiraten?»

Auch die Familie habe schlussendlich sehr gut reagiert, sagt Pascal. Sein Freund und er gingen heute ganz normal bei den Eltern ein und aus. «Was geht euch jetzt durch den Kopf», fragt er, nachdem er seine Geschichte beendet hat. Dass er bei Pascal nie gedacht hätte, dass er schwul ist, sagt einer der Jungen. Weil er die Klischees nicht erfülle, ergänzt ein anderer.

Die Gesprächsrunde ist erneut lanciert. Die Gruppe spricht etwa darüber, warum viele Leute gegen Homosexuelle seien. «Vielleicht wegen der Religion», argumentiert einer der Schüler, «dort ist es vorgegeben, dass man so nicht sein darf.» Die Knaben denken und diskutieren mit, wollen mehr wissen.

«Was!? Sie dürfen nicht heiraten?», fragt ein Schüler erstaunt, als Pascal die rechtlichen Ungleichheiten zwischen hetero- und homosexuellen Menschen in der Schweiz thematisiert. Die Zeit vergeht schnell, die letzte Viertelstunde bricht an. Pascal und Stephanie wechseln die Zimmer, damit die Mädchen auch noch mit einem schwulen Mann, die Knaben mit einer lesbischen Frau sprechen können.

 

«Wart ihr schon einmal verliebt?»

«Jetzt könnt ihr mich alles fragen, was ihr schon immer einmal wissen wolltet», sagt Stephanie. Die erste Frage kommt umgehend: «Wie ist es, lesbisch zu sein?», will einer der Jungen wissen. «Genau wie bei euch», antwortet Stephanie. «Wart ihr schon einmal verliebt?» Sie beschreibt dieses Gefühl, das Gefühl, verliebt zu sein. Die Schüler verstehen, was Stephanie meint und nicken eifrig.

Wie und wann sie gemerkt habe, dass sie lesbisch ist, lautet die nächste Frage. Stephanie erzählt vom anfänglichen Schock. Wie schlimm es zu Beginn war: «Ich wollte das nicht.» Wie schon zuvor bei Pascal hören die Knaben aufmerksam zu. Gerade die persönlichen Erfahrungen, die Ängste, Sorgen, aber auch die vielen Freuden, die Pascal und Stephanie während des Coming-out-Prozesses erlebt und gefühlt haben, erreichen und interessieren die Jugendlichen.

Dann hat Stephanie eine Frage: «Wie würdet ihr reagieren, wenn sich ein Freund euch gegenüber outen würde?» Das wäre «egal» und «voll okay», lautet der Tenor in der Runde. «Solange er mich nicht anmacht», fügt einer der Schüler an. Stephanie schmunzelt und erklärt, dass Homosexuelle nicht automatisch auf alle anderen Mädchen beziehungsweise Jungs stehen. «Ihr findet ja auch nicht jedes Mädchen toll. Versteht ihr?»

Nach der Stunde stehen die Schüler und Schülerinnen vor den Schulzimmern, die Stimmung ist ausgelassen. Die Lektionen kamen bei den Jugendlichen sehr gut an, sie fanden sie «super» und «sehr interessant». Sie hätten Dinge erfahren, die sie im normalen Unterricht nicht lernten. Es sei spannend gewesen zu sehen, «wie das alles so läuft», sagen zwei Schüler. «Es war das erste Mal, dass wir über dieses Thema gesprochen haben und auch ganz offen Fragen stellen konnten.»

 

Das Projekt COMOUT

«COMOUT» ist ein Schulprojekt der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St.Gallen-Appenzell. Bei diesem Projekt besuchen eine schwule, eine lesbische, eine bisexuelle und/oder trans Person eine Schulklasse. Dabei vermitteln sie Basiswissen zu den Themen Bi-/Homosexualität, Transgender und Coming-out. Die bi-/homosexuellen und/oder trans Personen berichten auch aus ihren Leben sowie über ihre persönlichen Erfahrungen. Dadurch ermöglichen sie den Jugendlichen einen Einblick in bi-/homosexuelle und/oder trans Lebensweisen.

Zudem thematisieren auch Klischees und Geschlechterrollen. Auf diese Art und Weise schaffen sie ein Verständnis für die mit einem Coming-out verbundenen Emotionen und Schwierigkeiten. Auch zeigen sie, dass homosexuelle Liebe mit den gleichen Gefühlen verbunden ist wie heterosexuelle Liebe. Ein weiteres Ziel des Projekts ist der Abbau von Vorurteilen und Berührungsängsten gegenüber bi-/homosexuellen und trans Menschen.

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