Jahresbericht

HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie sind nicht ansteckend.

Welt-Aids-Tag: Stopp Diskriminierung

1. Dezember 2020

Der 1. Dezember findet seit 1988 als Welt-Aids-Tag statt. Das Ziel des gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAIDS) ist es, Solidarität mit HIV-Betroffenen zu zeigen. Als Fachstelle für Aids- und Sexualfragen beleuchten wir dieses Jahr das Thema HIV/Aids aus drei Perspektiven: persönlich, rechtlich und medizinisch.

Text: Predrag Jurisic
Beitragsbild: Aids-Hilfe Schweiz

HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie sind nicht ansteckend.

Obwohl HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie nicht ansteckend sind, erleben sie Diskriminierungen im Alltag.

 

HIV-Betroffene sehen sich auch 2020 mit Diskriminierungen konfrontiert: Sei dies im Liebesleben, im Alltag oder beim Gang zur Zahnarztpraxis. Und das, obschon HIV-positive Menschen unter einer wirksamen HIV-Therapie nicht mehr ansteckend sind. In der Schweiz sind das immerhin 95 % aller HIV-positiven Personen. Doch nur 10 % der Bevölkerung wissen das. Es wird Zeit für ein HIV-Update.

 

HIV ist längst kein Todesurteil mehr. Trotzdem erleben HIV-Betroffene auch 2020 Diskriminierungen.

HIV ist längst kein Todesurteil mehr. Trotzdem sind HIV-Betroffene auch 2020 Diskriminierungen ausgesetzt. Bild: pixabay.com.

 

Die entschärfte Bombe

Er sei eine entschärfte Bombe, erzählt Riccardo (36) aus Winterthur. Dank seiner HIV-Therapie ist er nicht mehr ansteckend – auch beim Sex ohne Kondom. Trotzdem stösst er auf Dating-Portalen auf Ängste und Vorbehalte: Männer, denen er von seinem HIV-Status erzählt, suchen das Weite.

Dies ist einer der Gründe, warum uns Riccardo nur in anonymisierter Form über sein Leben mit HIV berichtet. Dennoch will er aufklären und zeigen, dass ein Leben mit HIV heute völlig normal abläuft: Das einzige, was sich bei ihm im Alltag geändert hat, ist die Medikamenteneinnahme. Ansonsten fühlt er sich fit wie vor seiner HIV-Infektion.

Warum es noch Diskriminierungen gibt und wie seine Freunde auf seine HIV-Infektion reagiert haben, gibt’s im Porträt nachzulesen: «Ich bin entschärft.»

 

«HIV/Aids: Die Bevölkerung braucht dringend ein Update.» Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin und Leiterin der Rechtsberatung bei der Aids-Hilfe Schweiz. Bild: Marilyn Manser.

 

Die Gesellschaft braucht dringend ein HIV-Update

Sobald HIV und Aids als Schlagworte auftauchen, haben viele Menschen noch immer die dramatischen Bilder der 80er Jahre im Kopf: abgemagerte Körper, Lungenentzündungen, Hautkrebs. Darum braucht die Gesellschaft dringend in HIV-Update, wie Caroline Suter im Interview erklärt: Sie ist bei der Aids-Hilfe Schweiz stellvertretende Geschäftsleiterin und Leiterin der Rechtsberatung und berät HIV-Betroffene in Diskriminierungsfällen.

Jährlich erhält die Aids-Hilfe Schweiz hundert solcher Diskriminierungsmeldungen. Die Dunkelziffer liege jedoch um ein Zehnfaches höher. Erschreckend dabei: Die meisten Diskriminierungsmeldungen erfolgen im Gesundheitswesen. Da gibt es Zahnarztpraxen, die HIV-Betroffenen nur Randtermine geben, weil sie angeblich eine besondere Desinfektion der eingesetzten Instrumente vornehmen müssen. Oder auch Physiotherapie- und Allgemeinpraxen, die eine Behandlung abbrechen, sobald sie vom HIV-Status einer betroffenen Person erfahren.

Welche weiteren Diskriminierungen HIV-positive Menschen erleben, erzählt Caroline Suter im Interview: «HIV/Aids: Die Bevölkerung braucht dringend ein Update.»

 

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza, Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St.Gallen (KSSG). Bild: KSSG.

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza, Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene bei HOCH Health Ostschweiz (ehemals Kantonsspital St.Gallen (KSSG). Bild: KSSG.

 

Ist HIV in naher Zukunft heilbar?

Ja, wenn es um die Einschätzung von Pietro Vernazza geht: Der Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene bei HOCH Health Ostschweiz ist überzeugt, dass eine Heilung von HIV in näherer Zukunft möglich sein wird. Es gebe einen Therapieansatz mit körpereigenen T-Zellen, der in Tierversuchen bereits erfolgreich getestet worden ist.

Im Interview beschreibt er zudem, wie sich die HIV-Prävention seit den Anfängen entwickelt hat, aber nicht nur: Er nimmt zu den aktuellen HIV-Infektionen Stellung sowie zur PrEP – der Präexpositionsprophylaxe. Das ist ein HIV-Medikament, das HIV-negative Personen einnehmen, um sich prophylaktisch gegen HIV zu schützen. Die tägliche PrEP-Pille bietet denselben zuverlässigen Schutz vor HIV wie ein Kondom und zählt seit wenigen Jahren ebenfalls zum Safer Sex – nebst der HIV-Therapie (TasP).

Ob es die Schweiz schafft, die HIV-Infektionen bis 2030 auf null zu senken und wie die HIV-Prävention global aussieht, zeigt Pietro Vernazza im Interview auf: «Ist eine Heilung von HIV/Aids in näherer Zukunft möglich?»

 

Menschen mit HIV – die Stigmatisierung ist noch immer gross

«Menschen mit HIV – die Stigmatisierung ist noch immer gross»

3. Juli 2018

Eine Ansteckung mit HIV hat sich von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit gewandelt, die sich mit Medikamenten in den Griff bekommen lässt. Trotzdem sind Menschen mit HIV im Alltag noch immer grosser Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt. Warum dominieren die Ängste und Vorurteile bis heute?

Text: Stephan Sigg, Pfarreiforum
Bild: Ana Kontoulis

Interview zu «35 Jahre HIV-Entdeckung»: Angela Lagler, HIV-Betroffene (rechts im Bild), und Myshelle Baeriswyl, Geschäftsleiterin der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen in St.Gallen (links im Bild).

Pfarreiforum: Frau Lagler, vor Kurzem sendete die SRF-Gesundheitssendung«Puls» ein Porträt über Sie. Wie sind die Reaktionen darauf ausgefallen?

Angela Lagler: «Ich habe nur Gutes gehört. In meinem privaten Umfeld wissen es einige schon längstens, da ich sehr offen mit dem Thema umgehe. Andere HIV-Betroffene gratulierten mir und bedankten sich dafür. Viele HIV-Positive haben Angst, sich zu outen. Sie befürchten negative Reaktionen …»

Myshelle Baeriswyl: «… und dies teilweise zu recht. Ich kann gut verstehen, wenn sich HIV-positive Menschen aus Selbstschutz nicht outen. Zudem ist eine Ansteckung Teil der Privatsphäre. Umgekehrt sind wir in der Prävention, zum Beispiel bei Podiumsveranstaltungen, Interviews oder auch bei unserem Schulprojekt «Menschen mit HIV» darauf angewiesen, dass es Betroffene gibt wie Angela Lagler, die HIV ein Gesicht geben. Das trägt dazu bei, Vorurteile und Ängste abzubauen. Wie die Zahl der Diskriminierungsmeldungen bei der Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz belegt, ist die Diskriminierung und Stigmatisierung auch heute noch häufig: Bei Versicherungen, bei Krankenkassen, bei Hausärzt*innen … Es sind Fälle bekannt, in denen HIV-Positive beim Zahnarzt nur den letzten Termin am Abend bekommen, weil angeblich alle Geräte nach der Behandlung besonders gereinigt werden müssen. Oder Pflegepersonal, das Angst vor einer HIV-Ansteckung hat. Dabei ist schon seit 2008 bekannt, dass HIV-Positive, die in Therapie sind und deren Virenlast nicht nachweisbar ist, nicht mehr ansteckend sind.»

In den Medien sorgte kürzlich die Sängerin Conchita Wurst für Aufsehen, als sie nach einem Erpressungsversuch sich öffentlich dazu bekannte, HIV-positiv zu sein.

Angela Lagler: «Und was ist passiert? Die Reaktionen waren so, wie ich es mitbekommen habe: durchwegs positiv. Das Beispiel Conchita rückt noch einen anderen Aspekt ins Bewusstsein: Ich kann Karriere machen, ich kann Erfolg haben und Teil des ganz normalen Lebens sein, auch wenn ich HIV-positiv bin.»

Myshelle Baeriswyl: «Ein Erpressungsversuch in Zusammenhang mit HIV – allein das zeigt doch, dass unsere Gesellschaft den Umgang mit diesem Thema noch nicht gelernt hat.»

Warum sind die Ängste immer noch so gross?

Myshelle Baeriswyl: «Viele haben noch immer die Bilder im Kopf, die damals durch die Medien gingen: Die ausgemergelten Gesichter von Aids-Erkrankten, die Sterbenden. In Präventionskampagnen wurde dies teilweise aufgegriffen. Es geht um Urängste. Eine HIV-Infektion kam einem Todesurteil gleich. Das hat sich bis heute festgesetzt. Auch ist es erstaunlich, wie viel Unwissen und falsche Annahmen betreffend Ansteckungswege auch bei uns in der Schweiz bis heute verbreitet sind. Nur ein Beispiel: Eine HIV-positive Person erzählte mir kürzlich, dass jemand aus lauter Angst vor einer Ansteckung auf das gemeinsame Fondue verzichtete.»

Die «Stop-Aids»-Kampagnen brachten das Thema in den letzten Jahrzehnten immer wieder in die Öffentlichkeit. Ein Fluch oder ein Segen?

Myshelle Baeriswyl: «Die Präventionskampagnen waren und sind bis heute unerlässlich, um das Thema in der Öffentlichkeit zu halten. Die Kampagnen waren ja auch gut gemacht, rüttelten wach und haben sich eingeprägt. Unvergessen Charles Clerc mit dem legendären Auftritt in der Tagesschau mit der Banane und dem Kondom; oder der Slogan «im Minimum en Gummi drum». Auf der anderen Seite ist es befremdlich, dass in der Schweiz erst wenige wissen, dass sich HIV längst von einer tödlichen in eine chronische, medikamentös kontrollierbare Erkrankung gewandelt hat. HIV-Positive in Therapie und einer Virenlast unter der Nachweisgrenze sind nicht mehr ansteckend und können auch ungeschützten Geschlechtsverkehr haben. Die damalige Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) hat dies schon vor zehn Jahren im sogenannten «Swiss Statement» publiziert. Aber es scheint, als hätten wir es in der Kampagnenarbeit bisher verschlafen, diese Tatsache an die breite Öffentlichkeit zu bringen. Dabei könnte dieses Wissen massgeblich dazu beitragen, Ängste und auch die Selbststigmatisierungen von Menschen mit HIV abzubauen.»

 

«Schon seit 2008 ist bekannt, dass HIV-Positive,
die in Therapie sind und deren Virenlast nicht
nachweisbar ist, nicht mehr ansteckend sind.»

 

Frau Lagler, Sie gehen regelmässig in Schulen, um über das Thema aufzuklären. Wie viel wissen die heutigen Jugendlichen?

Angela Lagler: «Erstaunlicherweise sind diese Schreckensbilder aus den 80er- und 90er-Jahren auch in den Köpfen vieler Jugendlicher. Oder sie haben das Gefühl, das Thema betreffe sie nicht und sie seien nicht gefährdet, weil sie nicht zu einer Risikogruppe gehören. Ich höre Vorurteile wie: HIV-Positive sind selber schuld! Es gibt aber auch Klassen, die von den Lehrpersonen schon gut aufgeklärt wurden.»

Myshelle Baeriswyl: «Diese moralische Bewertung von Ansteckungswegen ist auch heute noch real. HIV-Betroffenen wird sehr oft und sehr schnell die Frage gestellt, wie sie sich angesteckt haben. Solche Fragen sind eine massive Verletzung der Privatsphäre und zudem völlig irrelevant.»

Die Kirchen führten früher in Basel und in Zürich ein Aids-Pfarramt. Letzteres wird nach dem Ausstieg der evangelisch-reformierten Kirche als HIV-Aids-Seelsorge von der katholischen Kirche allein geführt. Wie erleben Sie die Kirchen im Umgang mit dem Thema HIV?

Angela Lagler: «In Zürich schufen die Kirchen damals früh ein Angebot für Menschen mit HIV und Aids-Kranke. Ich nahm früher oft bei den Angeboten des Aids-Pfarramts teil, da man dort andere Betroffene traf und sich austauschen konnte. Diese Gemeinschaft wurde für mich wie zu einer Familie. Wichtig und sehr erfreulich sind für mich die Gesten von Papst Franziskus. Er setzt Zeichen gegen Diskriminierung. Ich denke da zum Beispiel an die Medienberichte, als er einem HIV-Positiven die Füsse küsste.»

 

20’000 HIV-Positive in der Schweiz

In der Schweiz leben rund 20’000 Menschen mit HIV. 2016 wurden 542 Neudiagnosen gestellt – eine Zunahme von einem Prozent im Vergleich zum Vorjahr. «Da für viele Menschen die Hürde, einen HIV-Test zu machen, aus verschiedenen Gründen noch immer sehr hoch ist, wissen einige gar nicht, dass sie HIV-positiv sind. Manche Infizierte suchen erst einen Arzt oder eine Ärztin auf, wenn die ersten Symptome auftreten», so Myshelle Baeriswyl. Ab Herbst 2018 werden HIV-Heim- bzw. Selbsttests erhältlich sein.

 

Die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

Die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen (AHSGA) für die Region St.Gallen-Appenzell bietet verschiedene Angebote im Bereich der HIV-Prävention und Sexualpädagogik an. Sie berät u. a. bei Diskriminierung und leistet Notunterstützung für HIV-Positive. Die Fachstelle wird zu rund sechzig Prozent von den Kantonen SG, AR, AI und einem Beitrag der Stadt St.Gallen finanziert. Die restlichen vierzig Prozent erwirtschaftet die Fachstelle selber mit ihren Projekten und schulischen Einsätzen.

***

Dieser Beitrag ist im Pfarreiforum in der Juni-Ausgabe 2018 erschienen. Weitere Informationen für Menschen mit HIV und Aids:

Menschen mit HIV – die Stigmatisierung ist noch immer gross

«Menschen mit HIV – die Stigmatisierung ist noch immer gross»

3. Juli 2018

Eine Ansteckung mit HIV hat sich von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit gewandelt, die sich mit Medikamenten in den Griff bekommen lässt. Trotzdem sind Menschen mit HIV im Alltag noch immer grosser Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt. Warum dominieren die Ängste und Vorurteile bis heute?

Text: Stephan Sigg, Pfarreiforum
Bild: Ana Kontoulis

Interview zu «35 Jahre HIV-Entdeckung»: Angela Lagler, HIV-Betroffene (rechts im Bild), und Myshelle Baeriswyl, Geschäftsleiterin der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen in St.Gallen (links im Bild).

Pfarreiforum: Frau Lagler, vor Kurzem sendete die SRF-Gesundheitssendung«Puls» ein Porträt über Sie. Wie sind die Reaktionen darauf ausgefallen?

Angela Lagler: «Ich habe nur Gutes gehört. In meinem privaten Umfeld wissen es einige schon längstens, da ich sehr offen mit dem Thema umgehe. Andere HIV-Betroffene gratulierten mir und bedankten sich dafür. Viele HIV-Positive haben Angst, sich zu outen. Sie befürchten negative Reaktionen …»

Myshelle Baeriswyl: «… und dies teilweise zu recht. Ich kann gut verstehen, wenn sich HIV-positive Menschen aus Selbstschutz nicht outen. Zudem ist eine Ansteckung Teil der Privatsphäre. Umgekehrt sind wir in der Prävention, zum Beispiel bei Podiumsveranstaltungen, Interviews oder auch bei unserem Schulprojekt «Menschen mit HIV» darauf angewiesen, dass es Betroffene gibt wie Angela Lagler, die HIV ein Gesicht geben. Das trägt dazu bei, Vorurteile und Ängste abzubauen. Wie die Zahl der Diskriminierungsmeldungen bei der Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz belegt, ist die Diskriminierung und Stigmatisierung auch heute noch häufig: Bei Versicherungen, bei Krankenkassen, bei Hausärzt*innen … Es sind Fälle bekannt, in denen HIV-Positive beim Zahnarzt nur den letzten Termin am Abend bekommen, weil angeblich alle Geräte nach der Behandlung besonders gereinigt werden müssen. Oder Pflegepersonal, das Angst vor einer HIV-Ansteckung hat. Dabei ist schon seit 2008 bekannt, dass HIV-Positive, die in Therapie sind und deren Virenlast nicht nachweisbar ist, nicht mehr ansteckend sind.»

In den Medien sorgte kürzlich die Sängerin Conchita Wurst für Aufsehen, als sie nach einem Erpressungsversuch sich öffentlich dazu bekannte, HIV-positiv zu sein.

Angela Lagler: «Und was ist passiert? Die Reaktionen waren so, wie ich es mitbekommen habe: durchwegs positiv. Das Beispiel Conchita rückt noch einen anderen Aspekt ins Bewusstsein: Ich kann Karriere machen, ich kann Erfolg haben und Teil des ganz normalen Lebens sein, auch wenn ich HIV-positiv bin.»

Myshelle Baeriswyl: «Ein Erpressungsversuch in Zusammenhang mit HIV – allein das zeigt doch, dass unsere Gesellschaft den Umgang mit diesem Thema noch nicht gelernt hat.»

Warum sind die Ängste immer noch so gross?

Myshelle Baeriswyl: «Viele haben noch immer die Bilder im Kopf, die damals durch die Medien gingen: Die ausgemergelten Gesichter von Aids-Erkrankten, die Sterbenden. In Präventionskampagnen wurde dies teilweise aufgegriffen. Es geht um Urängste. Eine HIV-Infektion kam einem Todesurteil gleich. Das hat sich bis heute festgesetzt. Auch ist es erstaunlich, wie viel Unwissen und falsche Annahmen betreffend Ansteckungswege auch bei uns in der Schweiz bis heute verbreitet sind. Nur ein Beispiel: Eine HIV-positive Person erzählte mir kürzlich, dass jemand aus lauter Angst vor einer Ansteckung auf das gemeinsame Fondue verzichtete.»

Die «Stop-Aids»-Kampagnen brachten das Thema in den letzten Jahrzehnten immer wieder in die Öffentlichkeit. Ein Fluch oder ein Segen?

Myshelle Baeriswyl: «Die Präventionskampagnen waren und sind bis heute unerlässlich, um das Thema in der Öffentlichkeit zu halten. Die Kampagnen waren ja auch gut gemacht, rüttelten wach und haben sich eingeprägt. Unvergessen Charles Clerc mit dem legendären Auftritt in der Tagesschau mit der Banane und dem Kondom; oder der Slogan «im Minimum en Gummi drum». Auf der anderen Seite ist es befremdlich, dass in der Schweiz erst wenige wissen, dass sich HIV längst von einer tödlichen in eine chronische, medikamentös kontrollierbare Erkrankung gewandelt hat. HIV-Positive in Therapie und einer Virenlast unter der Nachweisgrenze sind nicht mehr ansteckend und können auch ungeschützten Geschlechtsverkehr haben. Die damalige Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) hat dies schon vor zehn Jahren im sogenannten «Swiss Statement» publiziert. Aber es scheint, als hätten wir es in der Kampagnenarbeit bisher verschlafen, diese Tatsache an die breite Öffentlichkeit zu bringen. Dabei könnte dieses Wissen massgeblich dazu beitragen, Ängste und auch die Selbststigmatisierungen von Menschen mit HIV abzubauen.»

 

«Schon seit 2008 ist bekannt, dass HIV-Positive,
die in Therapie sind und deren Virenlast nicht
nachweisbar ist, nicht mehr ansteckend sind.»

 

Frau Lagler, Sie gehen regelmässig in Schulen, um über das Thema aufzuklären. Wie viel wissen die heutigen Jugendlichen?

Angela Lagler: «Erstaunlicherweise sind diese Schreckensbilder aus den 80er- und 90er-Jahren auch in den Köpfen vieler Jugendlicher. Oder sie haben das Gefühl, das Thema betreffe sie nicht und sie seien nicht gefährdet, weil sie nicht zu einer Risikogruppe gehören. Ich höre Vorurteile wie: HIV-Positive sind selber schuld! Es gibt aber auch Klassen, die von den Lehrpersonen schon gut aufgeklärt wurden.»

Myshelle Baeriswyl: «Diese moralische Bewertung von Ansteckungswegen ist auch heute noch real. HIV-Betroffenen wird sehr oft und sehr schnell die Frage gestellt, wie sie sich angesteckt haben. Solche Fragen sind eine massive Verletzung der Privatsphäre und zudem völlig irrelevant.»

Die Kirchen führten früher in Basel und in Zürich ein Aids-Pfarramt. Letzteres wird nach dem Ausstieg der evangelisch-reformierten Kirche als HIV-Aids-Seelsorge von der katholischen Kirche allein geführt. Wie erleben Sie die Kirchen im Umgang mit dem Thema HIV?

Angela Lagler: «In Zürich schufen die Kirchen damals früh ein Angebot für Menschen mit HIV und Aids-Kranke. Ich nahm früher oft bei den Angeboten des Aids-Pfarramts teil, da man dort andere Betroffene traf und sich austauschen konnte. Diese Gemeinschaft wurde für mich wie zu einer Familie. Wichtig und sehr erfreulich sind für mich die Gesten von Papst Franziskus. Er setzt Zeichen gegen Diskriminierung. Ich denke da zum Beispiel an die Medienberichte, als er einem HIV-Positiven die Füsse küsste.»

 

20’000 HIV-Positive in der Schweiz

In der Schweiz leben rund 20’000 Menschen mit HIV. 2016 wurden 542 Neudiagnosen gestellt – eine Zunahme von einem Prozent im Vergleich zum Vorjahr. «Da für viele Menschen die Hürde, einen HIV-Test zu machen, aus verschiedenen Gründen noch immer sehr hoch ist, wissen einige gar nicht, dass sie HIV-positiv sind. Manche Infizierte suchen erst einen Arzt oder eine Ärztin auf, wenn die ersten Symptome auftreten», so Myshelle Baeriswyl. Ab Herbst 2018 werden HIV-Heim- bzw. Selbsttests erhältlich sein.

 

Die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

Die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen (AHSGA) für die Region St.Gallen-Appenzell bietet verschiedene Angebote im Bereich der HIV-Prävention und Sexualpädagogik an. Sie berät u. a. bei Diskriminierung und leistet Notunterstützung für HIV-Positive. Die Fachstelle wird zu rund sechzig Prozent von den Kantonen SG, AR, AI und einem Beitrag der Stadt St.Gallen finanziert. Die restlichen vierzig Prozent erwirtschaftet die Fachstelle selber mit ihren Projekten und schulischen Einsätzen.

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Dieser Beitrag ist im Pfarreiforum in der Juni-Ausgabe 2018 erschienen. Weitere Informationen für Menschen mit HIV und Aids:

Menschen mit HIV – die Stigmatisierung ist noch immer gross

«Menschen mit HIV – die Stigmatisierung ist noch immer gross»

3. Juli 2018

Eine Ansteckung mit HIV hat sich von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit gewandelt, die sich mit Medikamenten in den Griff bekommen lässt. Trotzdem sind Menschen mit HIV im Alltag noch immer grosser Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt. Warum dominieren die Ängste und Vorurteile bis heute?

Text: Stephan Sigg, Pfarreiforum
Bild: Ana Kontoulis

Interview zu «35 Jahre HIV-Entdeckung»: Angela Lagler, HIV-Betroffene (rechts im Bild), und Myshelle Baeriswyl, Geschäftsleiterin der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen in St.Gallen (links im Bild).

Pfarreiforum: Frau Lagler, vor Kurzem sendete die SRF-Gesundheitssendung«Puls» ein Porträt über Sie. Wie sind die Reaktionen darauf ausgefallen?

Angela Lagler: «Ich habe nur Gutes gehört. In meinem privaten Umfeld wissen es einige schon längstens, da ich sehr offen mit dem Thema umgehe. Andere HIV-Betroffene gratulierten mir und bedankten sich dafür. Viele HIV-Positive haben Angst, sich zu outen. Sie befürchten negative Reaktionen …»

Myshelle Baeriswyl: «… und dies teilweise zu recht. Ich kann gut verstehen, wenn sich HIV-positive Menschen aus Selbstschutz nicht outen. Zudem ist eine Ansteckung Teil der Privatsphäre. Umgekehrt sind wir in der Prävention, zum Beispiel bei Podiumsveranstaltungen, Interviews oder auch bei unserem Schulprojekt «Menschen mit HIV» darauf angewiesen, dass es Betroffene gibt wie Angela Lagler, die HIV ein Gesicht geben. Das trägt dazu bei, Vorurteile und Ängste abzubauen. Wie die Zahl der Diskriminierungsmeldungen bei der Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz belegt, ist die Diskriminierung und Stigmatisierung auch heute noch häufig: Bei Versicherungen, bei Krankenkassen, bei Hausärzt*innen … Es sind Fälle bekannt, in denen HIV-Positive beim Zahnarzt nur den letzten Termin am Abend bekommen, weil angeblich alle Geräte nach der Behandlung besonders gereinigt werden müssen. Oder Pflegepersonal, das Angst vor einer HIV-Ansteckung hat. Dabei ist schon seit 2008 bekannt, dass HIV-Positive, die in Therapie sind und deren Virenlast nicht nachweisbar ist, nicht mehr ansteckend sind.»

In den Medien sorgte kürzlich die Sängerin Conchita Wurst für Aufsehen, als sie nach einem Erpressungsversuch sich öffentlich dazu bekannte, HIV-positiv zu sein.

Angela Lagler: «Und was ist passiert? Die Reaktionen waren so, wie ich es mitbekommen habe: durchwegs positiv. Das Beispiel Conchita rückt noch einen anderen Aspekt ins Bewusstsein: Ich kann Karriere machen, ich kann Erfolg haben und Teil des ganz normalen Lebens sein, auch wenn ich HIV-positiv bin.»

Myshelle Baeriswyl: «Ein Erpressungsversuch in Zusammenhang mit HIV – allein das zeigt doch, dass unsere Gesellschaft den Umgang mit diesem Thema noch nicht gelernt hat.»

Warum sind die Ängste immer noch so gross?

Myshelle Baeriswyl: «Viele haben noch immer die Bilder im Kopf, die damals durch die Medien gingen: Die ausgemergelten Gesichter von Aids-Erkrankten, die Sterbenden. In Präventionskampagnen wurde dies teilweise aufgegriffen. Es geht um Urängste. Eine HIV-Infektion kam einem Todesurteil gleich. Das hat sich bis heute festgesetzt. Auch ist es erstaunlich, wie viel Unwissen und falsche Annahmen betreffend Ansteckungswege auch bei uns in der Schweiz bis heute verbreitet sind. Nur ein Beispiel: Eine HIV-positive Person erzählte mir kürzlich, dass jemand aus lauter Angst vor einer Ansteckung auf das gemeinsame Fondue verzichtete.»

Die «Stop-Aids»-Kampagnen brachten das Thema in den letzten Jahrzehnten immer wieder in die Öffentlichkeit. Ein Fluch oder ein Segen?

Myshelle Baeriswyl: «Die Präventionskampagnen waren und sind bis heute unerlässlich, um das Thema in der Öffentlichkeit zu halten. Die Kampagnen waren ja auch gut gemacht, rüttelten wach und haben sich eingeprägt. Unvergessen Charles Clerc mit dem legendären Auftritt in der Tagesschau mit der Banane und dem Kondom; oder der Slogan «im Minimum en Gummi drum». Auf der anderen Seite ist es befremdlich, dass in der Schweiz erst wenige wissen, dass sich HIV längst von einer tödlichen in eine chronische, medikamentös kontrollierbare Erkrankung gewandelt hat. HIV-Positive in Therapie und einer Virenlast unter der Nachweisgrenze sind nicht mehr ansteckend und können auch ungeschützten Geschlechtsverkehr haben. Die damalige Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) hat dies schon vor zehn Jahren im sogenannten «Swiss Statement» publiziert. Aber es scheint, als hätten wir es in der Kampagnenarbeit bisher verschlafen, diese Tatsache an die breite Öffentlichkeit zu bringen. Dabei könnte dieses Wissen massgeblich dazu beitragen, Ängste und auch die Selbststigmatisierungen von Menschen mit HIV abzubauen.»

 

«Schon seit 2008 ist bekannt, dass HIV-Positive,
die in Therapie sind und deren Virenlast nicht
nachweisbar ist, nicht mehr ansteckend sind.»

 

Frau Lagler, Sie gehen regelmässig in Schulen, um über das Thema aufzuklären. Wie viel wissen die heutigen Jugendlichen?

Angela Lagler: «Erstaunlicherweise sind diese Schreckensbilder aus den 80er- und 90er-Jahren auch in den Köpfen vieler Jugendlicher. Oder sie haben das Gefühl, das Thema betreffe sie nicht und sie seien nicht gefährdet, weil sie nicht zu einer Risikogruppe gehören. Ich höre Vorurteile wie: HIV-Positive sind selber schuld! Es gibt aber auch Klassen, die von den Lehrpersonen schon gut aufgeklärt wurden.»

Myshelle Baeriswyl: «Diese moralische Bewertung von Ansteckungswegen ist auch heute noch real. HIV-Betroffenen wird sehr oft und sehr schnell die Frage gestellt, wie sie sich angesteckt haben. Solche Fragen sind eine massive Verletzung der Privatsphäre und zudem völlig irrelevant.»

Die Kirchen führten früher in Basel und in Zürich ein Aids-Pfarramt. Letzteres wird nach dem Ausstieg der evangelisch-reformierten Kirche als HIV-Aids-Seelsorge von der katholischen Kirche allein geführt. Wie erleben Sie die Kirchen im Umgang mit dem Thema HIV?

Angela Lagler: «In Zürich schufen die Kirchen damals früh ein Angebot für Menschen mit HIV und Aids-Kranke. Ich nahm früher oft bei den Angeboten des Aids-Pfarramts teil, da man dort andere Betroffene traf und sich austauschen konnte. Diese Gemeinschaft wurde für mich wie zu einer Familie. Wichtig und sehr erfreulich sind für mich die Gesten von Papst Franziskus. Er setzt Zeichen gegen Diskriminierung. Ich denke da zum Beispiel an die Medienberichte, als er einem HIV-Positiven die Füsse küsste.»

 

20’000 HIV-Positive in der Schweiz

In der Schweiz leben rund 20’000 Menschen mit HIV. 2016 wurden 542 Neudiagnosen gestellt – eine Zunahme von einem Prozent im Vergleich zum Vorjahr. «Da für viele Menschen die Hürde, einen HIV-Test zu machen, aus verschiedenen Gründen noch immer sehr hoch ist, wissen einige gar nicht, dass sie HIV-positiv sind. Manche Infizierte suchen erst einen Arzt oder eine Ärztin auf, wenn die ersten Symptome auftreten», so Myshelle Baeriswyl. Ab Herbst 2018 werden HIV-Heim- bzw. Selbsttests erhältlich sein.

 

Die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

Die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen (AHSGA) für die Region St.Gallen-Appenzell bietet verschiedene Angebote im Bereich der HIV-Prävention und Sexualpädagogik an. Sie berät u. a. bei Diskriminierung und leistet Notunterstützung für HIV-Positive. Die Fachstelle wird zu rund sechzig Prozent von den Kantonen SG, AR, AI und einem Beitrag der Stadt St.Gallen finanziert. Die restlichen vierzig Prozent erwirtschaftet die Fachstelle selber mit ihren Projekten und schulischen Einsätzen.

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Dieser Beitrag ist im Pfarreiforum in der Juni-Ausgabe 2018 erschienen. Weitere Informationen für Menschen mit HIV und Aids:

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