Frauenpower im AHSGA-Vorstand

Mehr Frauenpower im AHSGA-Vorstand

13. Juni 2017

Der AHSGA-Vorstand bekommt Unterstützung durch Frauenpower: Colette Künzle, Kerstin Wissel und Jacqueline Schneider berichten im Interview über die neue Frauenpower im AHSGA-Vorstand, die HIV-Sprechstunden im Kantonsspital St.Gallen sowie die Arbeit mit migrantischen Jugendlichen.

Interview: Corinne Riedener
Beitragsbild: Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

Frauenpower im AHSGA-Vorstand

Im Bild von links nach rechts:

Colette Künzle unterrichtet bei den Brückenangeboten der GBS St.Gallen hauptsächlich jugendliche Flüchtlinge. Sie ist seit Mai 2017 im AHSGA-Vorstand und zuständig für das Ressort Schule.

Kerstin Wissel ist Fachassistentin an der Klinik für Infektiologie des Kantonsspitals St.Gallen. Sie ist seit Mai 2017 im AHSGA-Vorstand und zuständig für das Ressort Medizin.

Jacqueline Schneider ist seit Mai 2016 im Vorstand und verantwortlich für das Ressort Politik. Sie ist SP-Kantonsrätin und Geschäftsführerin der Frauenzentrale St.Gallen.

Wie kamt ihr zum AHSGA-Vorstand und was wollt ihr mit eurem Mandat bewirken?
Jacqueline Schneider: Ich wurde von meiner Vorgängerin angefragt. Sie suchte jemanden mit einem guten Netzwerk, NGO-Kenntnissen und einem Schwerpunkt bei Frauenanliegen. Ich ging also an eine erste Sitzung, mehr um zu «schnuppern», denn ich wusste gar nicht recht, was mich erwartet, und danach war für mich klar: Das will ich machen. Mir geht es primär darum, für die Themen der AHSGA eine Öffentlichkeit zu schaffen und den Verein noch weiter bekannt zu machen. Und natürlich sollen dabei auch Frauenthemen vermehrt eine Rolle spielen.

Kerstin Wissel: Bei mir dasselbe: Ich wurde von meinem Vorgänger, Dr. Pietro Vernazza, angeworben. Er ist mein Chef an der Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St.Gallen. Beruflich habe ich sehr viele Überschneidungspunkte mit den Themen der Fachstelle, deshalb war es für mich keine Frage, dass ich das Vorstandsmandat übernehmen will. Ich werde für die medizinischen Fragen zuständig sein. Wie mein Beitrag konkret aussehen wird, kann ich noch nicht sagen, da wir in dieser Zusammensetzung noch ein sehr junger Vorstand sind. Demnächst soll es aber eine Standortbestimmung geben.

Colette Künzle: Ich kam ebenfalls durch meinen Vorgänger in den Vorstand. Die Themen Aids und Sexualität sind eine spannende Abwechslung zu meiner Arbeit in der Schule und haben gleichzeitig einen starken Bezug zu den Jugendlichen, die ich unterrichte. Der Sexualpädagogik-Unterricht bei uns beispielsweise, den Profis der Fachstelle leiten, kommt immer sehr gut an. Ich finde es – als Lehrerin und als Mutter – wichtig, dass es solche Angebote gibt und dass sie weiter ausgebaut werden. Deshalb engagiere ich mich im Vorstand.

Gibt es schon Themen, Projekte oder Ideen für die nächste Zeit, die der Vorstand als Ganzes ins Auge gefasst hat?
Jacqueline: Noch nicht, aber bald. Vorderhand geht es darum, dass wir uns neu formieren können und alle ihren Platz finden. Dann wissen wir, wer wir sind und wohin wir wollen – als Verein, aber auch als Arbeitgeber.

Kerstin: Eines meiner Ziele wäre, wie auch Jacqueline gesagt hat, dass die Fachstelle bekannter wird. Bei unserer anonymen Sprechstunde im Spital beispielsweise merken wir tagtäglich, wie enorm der Rede- und Informationsbedarf ist. Viele trauen sich nicht, Fragen zu sexuell übertragbaren Krankheiten zu stellen oder offen über ihre Sexualität zu sprechen. Die AHSGA ist dafür die ideale Anlaufstelle.

Seit Mai seid ihr drei Frauen im Vorstand, vorher war nur eine von neun Personen weiblich. Erhofft ihr euch etwas von dieser neuen «Frauenpower»? Gibt es Themen oder Diskussion, die aus eurer Sicht dringend angegangen werden müssten?
Jacqueline: Bei meinen ersten Sitzungen sind die schwulen Männer immer sehr im Vordergrund gestanden. Ich würde da gerne einen Ausgleich schaffen und die gleichgeschlechtliche Liebe bei Frauen wie Männern gleich stark gewichten. Mir ist natürlich klar, dass dieser männliche Überhang auch historisch bedingt ist: Der Verein wurde einst vorwiegend von schwulen Männern gegründet, aber nun ist es an der Zeit, auch den Frauen Gewicht zu geben.

Colette: Hat diese männliche Prägung nicht auch damit zu tun, dass Schwule einfach einem grösseren Risiko ausgesetzt sind, wenn es um Aids und HIV geht?

Kerstin: Aus fachlicher Sicht kann ich das nur bestätigen. Ein Grossteil derer, die zu uns in die Sprechstunde kommen, Fragen haben oder sich testen lassen wollen, sind Männer.

Könnte es auch damit zu tun haben, dass die schwulen Männer im Kampf für die Homosexualität früher einfach sichtbarer und präsenter waren? Lesbische oder bisexuelle Frauen stehen bis heute eher im Abseits, habe ich den Eindruck …
Jacqueline: Das sehe ich auch so. Lesbisch zu sein ist eher noch ein gesellschaftliches Tabu. Erst kürzlich habe ich in einer Studie gelesen, dass Frauen viel länger warten, bis sie den Schritt an die Öffentlichkeit wagen. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Männer sich weniger scheuen oder diskriminiert fühlen.

Kerstin: Da bin ich mir nicht so sicher. Ich erlebe Männer, die sich nicht richtig trauen, alles zu erzählen – was wichtig wäre für die Beratung bei uns. Ich glaube, manche kommen erst, wenn sie gewisse Beschwerden und Ängste nicht länger ignorieren können. Dass wir vergleichsweise wenig Frauen sehen, könnte auch daran liegen, dass sie bereits von einem Gynäkologen oder einer Gynäkologin betreut werden.

Colette, du arbeitest mit migrantischen Jugendlichen. Jürg Bläuer von der Fachstelle sagte letztes Jahr in einem Saiten-Interview, dass das Thema Homosexualität bei dieser Anspruchsgruppe zunehmend wichtiger wird. Wie sind deine Erfahrungen?
Colette: Bis jetzt ist das bei uns kein Thema – weil Homosexualität nicht wirklich thematisiert wird. Unsere Schülerinnen und Schüler reden von sich aus nicht über solche Dinge. Diese schwer einzuordnende Haltung erlebe ich unabhängig von der Herkunft der Jugendlichen, und das hat auch jüngst eine AHSGA-Studie gezeigt: Viele sagen zwar, sie hätten kein Problem mit Homosexualität, aber nur solange sie selber keine schwulen oder lesbischen Bekannten haben. Wir reden wohl über Rollenbilder in der Schule, aber alles andere ginge bei acht Lektionen Unterricht pro Woche zu weit, denke ich. Und der Aufklärungsunterreicht wird ja ohnehin von den Profis der Fachstelle abgedeckt.

Ist es nie vorgekommen, dass du eine Person in der Klasse hattest, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung flüchten musste?
Colette: Nein. Jedenfalls ist mir kein solcher Fall bekannt. Im Moment haben wir viele Junge aus Eritrea, die haben andere Fluchtgründe. Zwei Jugendliche aus Afghanistan haben mir einmal erzählt, wie in ihrem Herkunftsland Homosexuelle hingerichtet werden, aber konkret auf mich zugekommen ist nie jemand. Ich bezweifle aber, dass sich eine betroffene Person überhaupt an mich als Lehrerin wenden würde … Und – das klingt jetzt vielleicht blöd – leider gibt es noch viel akutere Probleme, die wir zusammen mit den Jugendlichen lösen müssen, sprich Deutsch lernen, Ausbildung organisieren, Wohnverhältnisse klären etc. Die Frage nach der sexuellen Identität stellt sich darum bei vielen erst später.

Jacqueline: Und das Thema Sexualität und Aufklärung soll ja auch nicht allein an der Schule hängen bleiben, sondern mit zu den familiären Aufgaben gehören. Ich finde es enorm wichtig, dass Jugendliche auch mit ihren Eltern offen über diese Dinge reden können.

Colette: Wenn sie denn entsprechend aufgeklärte Eltern und ein liebevolles Zuhause haben …

Kerstin, ihr bietet anonyme Sprechstunden an bei der Infektiologie. Wer kommt zu euch?
Kerstin: Unsere Kundschaft ist bunt gemischt und wie gesagt vorwiegend männlich. Vom Teenager bis zum Greis ist alles dabei. In der Beratung mache ich immer wieder die Erfahrung, dass die älteren Männer viel weniger Probleme haben und deutlich offener umgehen mit ihrer Sexualität oder einer allfälligen HIV-Erkrankung. Bei den Jungen ist das ganz anders. Viele haben grosse Hemmungen und es braucht teilweise sehr lange Gespräche, damit sich jemand ein kleines bisschen öffnet.

Liegt das am Alter? An der Reife? Oder hat es mit dem vielfach beschworenen Backlash der «Generation Y» zu tun?
Kerstin: Gute Frage … Ich glaube, dass die älteren Männer in ihrem Leben mehr Möglichkeiten hatten, sich mit ihrer Sexualität und möglichen Risiken auseinanderzusetzen. Die Jungen stehen noch am Anfang dieser Entwicklung und haben sich im Gegensatz zu den älteren oft noch nicht geoutet.

Und die Frauen?
Kerstin: Die Quote bei den weiblichen HIV-Neuansteckungen in der Schweiz liegt konstant etwa bei 20 Prozent. Hier finden sich sowohl Migrantinnen, die sich in Herkunftsländern mit starker Prävalenz angesteckt haben, als auch Schweizerinnen, die sich «ganz normal» beim ungeschützten Geschlechtsverkehr angesteckt haben.

Jacqueline, du führst unter anderem auch ein Leben als Politikerin. Wo, denkst du, müsste man noch Pflöcke für eine bunte Zukunft einschlagen und sich zusammentun?
Jacqueline: Die «Ehe für alle» zum Beispiel können wir nicht ohne das Thema Adoption behandeln, finde ich. Wir müssen uns diesen Themen gegenüber aber grundsätzlich öffnen und weniger bünzlig werden. Unsere Gesellschaft gibt sich ja gern wahnsinnig weltoffen, aber wenn man ein wenig nachbohrt, ist es in vielen Fällen gar nicht mehr so weit her mit der Toleranz … Darum braucht es noch mehr Aufklärung und Sensibilisierung – schliesslich leben wir im Jahr 2017 und nicht mehr im 19. Jahrhundert! Wenn wir es schaffen, dass die Leute das Rad nicht mehr zurückdrehen wollen, sondern das, was ist, akzeptieren, haben wir schon wahnsinnig viel erreicht. Und das, ohne einen einzigen Franken auszugeben.

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