Jahresbericht

Elegies For Angels, Punks And Raging Queens – Benefizabend zum 40-Jahr-Jubiläum der Aids-Hilfe Schweiz und Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell

40 Jahre Engagement und Prävention: Die Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell feiert Jubiläum

11. November 2025

Am 15. November 2025 wird die Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell (AHSGA) 40 Jahre alt. Mit der dazugehörigen Fachstelle für Aids- und Sexualfragen feiert sie ihr Jubiläum am 29. November 2025 mit einem Benefizabend zum Welt-Aids-Tag in der Lokremise St.Gallen.

Text: Predrag Jurisic/Aids-Hilfe Schweiz
Beitragsbild: Aids-Hilfe Schweiz

 

Elegies For Angels, Punks And Raging Queens – Benefizabend zum 40-Jahr-Jubiläum der Aids-Hilfe Schweiz und Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell

Elegies For Angels, Punks And Raging Queens – Benefizabend zum 40-Jahr-Jubiläum der Aids-Hilfe Schweiz und Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell

 

Die AHSGA gründete sich 1985. Menschen mit HIV schufen in den dunkelsten Jahren der Aids-Epidemie eine erste Anlaufstelle. Es war ein Akt der Notwehr, der Solidarität. Aus dieser Initiative entwickelte sich die heutige, professionell geführte Fachstelle für Aids- und Sexualfragen.

 

Der Weg zur professionellen Fachstelle

In den 1980er-Jahren stand die reine Überlebenshilfe und die Aufklärung über die neue, tödliche Gefahr im Zentrum. Die Präventionsarbeit richtete sich primär gegen die Übertragung von HIV. Mit dem Aufkommen wirksamer Therapien – HIV ist heute nicht heilbar, aber gut behandelbar – verschob sich der Fokus. 

Die Lebensqualität von Menschen mit HIV verbesserte sich. Was blieb, sind Diskriminierung und Stigmatisierung. Mit Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit versucht die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen, dem entgegenzuwirken. 

Mitte der 1990er-Jahre kam der Bereich der sexuellen Bildung hinzu. Das Ziel der Fachstellenarbeit heute ist umfassender: Sie will Menschen befähigen, ihre Sexualität gesund, selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu gestalten. Die Mission: Durchblick in Gesundheit und Bildung. Dabei ruht die Fachstellenarbeit auf zwei Säulen: sexuelle Gesundheit und sexuelle Bildung. 

 

Benefizabend zum Welt-Aids-Tag 

Das 40-Jahr-Jubiläum feiert die AHSGA mit einem musikalischen Benefizabend, der an die Anfänge der Aids-Krise erinnert: «Elegies for Angels, Punks and Raging Queens» heisst die Schweizer Erstaufführung eines Liederzyklus mit bewegenden Songs und Monologen. Das Stück von 1989 handelt vom Leben und Sterben mit HIV. Angehörige und Menschen mit HIV berichten von Liebe, Verzweiflung, Trauer, Solidarität und Lebensfreude.  

Der Benefizabend beginnt am 29. November 2025 um 20 Uhr in der Lokremise St.Gallen. Er ist Teil des 40-Jahr-Jubiläums der Aids-Hilfe Schweiz und erinnert musikalisch an 40 Jahre Engagement für Menschen und gegen Ausgrenzung.  

Weitere Informationen und Tickets zu «Elegies for Angels, Punks and Raging Queens» in der Lokremise finden Sie hier. Alle Informationen zum Benefizabend und allen Spielorten in der Schweiz sind hier erhältlich.  

 

Kunst als Zeugin der Zeit: Die Edition AHSGA von 1993 bis 1999

Am Benefizabend in der Lokremise wird die AHSGA einen Stand betreiben. Dort ist die besondere Kunstedition AHSGA von 1993 bis 1999 zu sehen. Diese Edition ist ein seltenes Zeitdokument und zeigt die Verbindung von Kunst und Kampf gegen die Krankheit in den 90er-Jahren. Bekannte Ostschweizer Künstler*innen haben diese Kunstedition gestaltet. 

Interessierte haben die Möglichkeit, die historischen Grafiken zu erwerben, sowohl einzeln als auch als vollständige Edition. Der Erlös kommt Präventionsprojekten und der Unterstützung von Menschen mit HIV zugute.

Kunstedition AHSGA von 1993: Kunst im Kampf gegen HIV/Aids

Kunst im Kampf gegen HIV/Aids: Die Kunstedition AHSGA von 1993 bis 1999 – erhältlich bei der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen.

Preis- und Bestellanfragen sind bereits jetzt möglich: 

Fachstelle für Aids- und Sexualfragen
Tellstrasse 4
9000 St.Gallen 

info@ahsga.ch| 071 223 68 08 

HIV-/STI-Beratung: Adrian Knecht

Neue Geschäftsleitung der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

7. Oktober 2025

Die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen verzeichnet einen Wechsel in der Geschäftsleitung: Seit dem 1. September 2025 ist Adrian Knecht neuer Geschäftsleiter und Nachfolger von Simone Dos Santos.

Text: Predrag Jurisic
Beitragsbild: AHSGA/Mattes Films AG

 

HIV-/STI-Beratung: Adrian Knecht

Adrian Knecht: neuer Geschäftsleiter der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen.

 

Ende August hat Simone Dos Santos ihre Tätigkeit bei der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen beendet. Davor engagierte sie sich 18 Jahre lang in der sexuellen Bildung für Volksschulen, soziale Institutionen, Berufsschulen und Migrationsprojekte sowie in der HIV-/STI-Prävention und Beratung. Die letzten sechs Jahre wirkte sie als Geschäftsleiterin der Fachstelle.

Simone Dos Santos, ehemalige Geschäftsleiterin der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

Simone Dos Santos, ehemalige Geschäftsleiterin der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen.

Immer mit dabei: viel Herzblut für eine aufgeklärte, offene und vielfältige Gesellschaft. Dazu die AHSGA-Präsidentin Andrea Schöb: «Wir danken Simone für ihr unermüdliches und leidenschaftliches Engagement der letzten fast zwei Jahrzehnte. Ihre Haltung und Werte haben uns inspiriert – die bewährte Arbeit werden wir weiterführen und weiterentwickeln. Für ihren weiteren Weg wünschen wir Simone nur das Beste.»

 

Adrian Knecht: Sozialarbeiter mit Erfahrung in der sexuellen Gesundheit

Seit 2020 ist Adrian Knecht bei der Fachstelle als Projektleiter Prävention MSM/LGTBIQA+ im Einsatz. In dieser Funktion betreute er die HIV-/STI-Prävention für MSM* und TSM* mit Kampagnen, Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit. Ausserdem leitete er das COMOUT-Schulprojekt und koordinierte die Einsätze des Freelance-Teams.

*MSM/TSM: Männer (= MSM) und trans Personen (= TSM), die Sex mit Männern haben

Adrian Knecht ist Sozialarbeiter und hat sich im Bereich sexuelle Gesundheit weitergebildet. Neben der beruflichen Tätigkeit bringt er Erfahrung aus ehrenamtlichen Engagements bei einem queeren Dachverband, in der offenen Jugendarbeit und der Kommunalpolitik mit.

 

Über die AHSGA und Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

Der Verein Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell (AHSGA) existiert seit 1985 und ist heute Träger der professionell geführten Fachstelle für Aids- und Sexualfragen. Ihr Auftrag umfasst ganzheitliche Angebote in der sexuellen Bildung und sexuellen Gesundheit. Sie setzt sich für sexuelle Gesundheit, Prävention, Begleitung von Menschen mit HIV, sexualpädagogische Angebote und queere Lebensrealitäten ein. Diskretion, Offenheit und Fachkompetenz prägen ihre Arbeit.

Weiterführende Infos:

Sexuelle Bildung

Sexuelle Gesundheit

 

Hanspeter Niggli, ehemaliger Präsident der AHSGA

Hanspeter Niggli: 33 Jahre im Dienste der AHSGA

An der Mitgliederversammlung vom 11. Mai 2017 übergab Hanspeter Niggli das Präsidium der Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell (AHSGA) in neue Hände. An der Retraite vom 2. September 2017 gab er zudem seinen Rücktritt aus dem Vorstand bekannt. Damit verliert die AHSGA das letzte ihrer Gründungsmitglieder.

Hanspeter Niggli, ehemaliger Präsident der AHSGA

Text: Myshelle Baeriswyl
Bild: Hanspeter Niggli

Hanspeter Niggli war 33 Jahre im Dienste der AHSGA, die am 11. November 1985 gegründet wurde (vgl. Jubiläumsbroschüre «30 Jahre AHSGA»). Sein Engagement für die AHSGA erfolgte primär aus eigener Betroffenheit, aber auch auf Initiative der Homosexuellen-Arbeitsgruppe St.Gallen HAGS.

 

Von der Freiwilligenarbeit zur professionellen Aids-Hilfe

In ihren Anfängen beruhte die AHSGA auf reiner Freiwilligenarbeit. Die Basis dazu ergab sich aus den damals bekannten Aktivitäten in den Vereinigten Staaten und auch mit den Ideen der Aids-Hilfe Schweiz. Alles war neu und beängstigend, aber herausfordernd. So begann die AHSGA mit einer Beratungstelefongruppe. Bei der Betreuung von Betroffenen zeigte sich aber bald, dass die Mitglieder damit überfordert waren. Daher gaben sie diesen Bereich auf. Im Prinzip war alles neu. Daher mussten sie Einsatz für Einsatz neu erarbeiten, entwickeln und festigen. Doch der Idealismus und Einsatz waren grossartig.

Bald gelang es, das erste «Büro» in Betrieb zu nehmen. Nach zwei Jahren wagte man es, ins Zentrum von St.Gallen zu ziehen. Schon früh gelang es, mit der Infektiologie des Kantonsspitals St.Gallen erfolgreich zusammenzuarbeiten. So blieb das AHSGA-Team immer «up to date», was die Trends in der Prävention und den Stand der Forschung betrifft.

Im Jahr 1990 wurde der Entschluss gefasst, die AHSGA zu professionalisieren und eine Geschäftsstelle an der Tellstrasse 4 aufzubauen, wo sie als «Fachstelle für Aids- und Sexualfragen» bis heute ihren Geschäftssitz hat. Es war kein leichtes Unterfangen. Auch gab es einige Widerstände dabei zu bekämpfen. Doch letztlich liess sich der grosse Aufbruch erfolgreich umsetzen.

 

Die Meilensteine

Hanspeter Niggli hatte unterschiedliche Aufgaben innerhalb der AHSGA inne. Von 1985 bis 1993 war er Kassier und verwaltete u. a. die Unterstützungsbeiträge des Kantons St.Gallen, die als Basis für die vom Kanton übernommenen Leistungen der AHSGA bis heute nachwirken. 1990 kam es zur ersten Leistungsvereinbarung. Von 1997 bis 2013, also 18 Jahre lang, war Hanspeter Niggli Vizepräsident der AHSGA; zweimal, von 1988 bis 1992 und 2014 bis 2017, gar deren Präsident.

Seit seiner ersten Amtszeit als Präsident drängte Hanspeter Niggli darauf, das Präsidium und den Vorstand politisch zu verankern. Auf den mehr oder weniger reibungslosen Verlauf der Professionalisierung ist er bis heute stolz. Während 14 Jahren arbeitete er mit dem damaligen Geschäftsleiter Johannes E. Schläpfer zusammen. In dieser Zeit erarbeitete er mit dem AHSGA-Team unter anderem auch das Leitbild.

Als spezielle Herausforderung erinnert er sich an das Projekt «Skorpion» – die Spritzenabgaben für den Kanton St.Gallen. Auch die Zeitschrift Dialog erblickte in dieser Zeit das Licht der Welt, das Richard Butz als Redaktor verantwortete. Des Weiteren entstanden während Hanspeter Nigglis Engagement verschiedene Lehrmittel – wie zum Beispiel «Freundschaft-Liebe-Sexualität», das damals zum Teil auf Empörung und Proteste stiess.

 

Abschied

In seiner zweiten Präsidialzeit, diesmal mit der neuen Geschäftsleiterin Myshelle Baeriswyl, ging die erfolgreiche Zusammenarbeit weiter – «nach erstem Abtasten», wie Hanspeter Niggli einmal schrieb und weiter betonte, wie stolz er wäre, dass er dem neuen Präsidenten Nils Rickert einen gut funktionierenden Vorstand, eine motivierte und erfolgreiche Geschäftsstelle sowie einen finanziell gesunden Verein übergeben konnte. Seine Vorstandstätigkeit sei für Hanspeter Niggli stets bereichernd gewesen. Als Mann der Wirtschaft tat er sich aber zuweilen schwer mit dem «Sozi-Groove», meinte er augenzwinkernd. Aber er lernte viele tolle Menschen kennen und schätzen.

Im Rückblick auf die Meilensteine der AHSGA sei er noch immer stolz darauf, dass die AHSGA in vielen Bereichen Trends erkannt und umgesetzt habe. So auch die Schwerpunktsetzung auf Sexualpädagogik inklusive Lehrmittel.

Lieber Hanspeter Niggli, deine Verdienste für die AHSGA sind unschätzbar. Jeder Dank greift letztlich zu kurz. Ohne dich gäbe es die AHSGA in dieser Form nicht. Ich persönlich habe sehr gerne mit dir zusammengearbeitet … nach kurzem Abtasten (lach). Wir vermissen dich: deinen Humor, deine direkte, aber stets wertschätzende Art. Alles Gute – und viele neue bleibenden Einblicke in deinen filmischen Exkursionen im KINOK.

Frauenpower im AHSGA-Vorstand

Mehr Frauenpower im AHSGA-Vorstand

13. Juni 2017

Der AHSGA-Vorstand bekommt Unterstützung durch Frauenpower: Colette Künzle, Kerstin Wissel und Jacqueline Schneider berichten im Interview über die neue Frauenpower im AHSGA-Vorstand, die HIV-Sprechstunden von HOCH Health Ostschweiz sowie die Arbeit mit migrantischen Jugendlichen.

Interview: Corinne Riedener
Beitragsbild: Fachstelle für Aids- und Sexualfragen

Frauenpower im AHSGA-Vorstand

Im Bild von links nach rechts:

Colette Künzle unterrichtet bei den Brückenangeboten der GBS St.Gallen hauptsächlich jugendliche Flüchtlinge. Sie ist seit Mai 2017 im AHSGA-Vorstand und zuständig für das Ressort Schule.

Kerstin Wissel ist Fachassistentin an der Infektiologie von HOCH Health Ostschweiz. Sie ist seit Mai 2017 im AHSGA-Vorstand und zuständig für das Ressort Medizin.

Jacqueline Schneider ist seit Mai 2016 im Vorstand und verantwortlich für das Ressort Politik. Sie ist SP-Kantonsrätin und Geschäftsführerin der Frauenzentrale St.Gallen.

Wie kamt ihr zum AHSGA-Vorstand und was wollt ihr mit eurem Mandat bewirken?
Jacqueline Schneider: Ich wurde von meiner Vorgängerin angefragt. Sie suchte jemanden mit einem guten Netzwerk, NGO-Kenntnissen und einem Schwerpunkt bei Frauenanliegen. Ich ging also an eine erste Sitzung, mehr um zu «schnuppern», denn ich wusste gar nicht recht, was mich erwartet, und danach war für mich klar: Das will ich machen. Mir geht es primär darum, für die Themen der AHSGA eine Öffentlichkeit zu schaffen und den Verein noch weiter bekannt zu machen. Und natürlich sollen dabei auch Frauenthemen vermehrt eine Rolle spielen.

Kerstin Wissel: Bei mir dasselbe: Ich wurde von meinem Vorgänger, Dr. Pietro Vernazza, angeworben. Er ist mein Chef an der Infektiologie von HOCH Health Ostschweiz. Beruflich habe ich sehr viele Überschneidungspunkte mit den Themen der Fachstelle, deshalb war es für mich keine Frage, dass ich das Vorstandsmandat übernehmen will. Ich werde für die medizinischen Fragen zuständig sein. Wie mein Beitrag konkret aussehen wird, kann ich noch nicht sagen, da wir in dieser Zusammensetzung noch ein sehr junger Vorstand sind. Demnächst soll es aber eine Standortbestimmung geben.

Colette Künzle: Ich kam ebenfalls durch meinen Vorgänger in den Vorstand. Die Themen Aids und Sexualität sind eine spannende Abwechslung zu meiner Arbeit in der Schule und haben gleichzeitig einen starken Bezug zu den Jugendlichen, die ich unterrichte. Der Sexualpädagogik-Unterricht bei uns beispielsweise, den Profis der Fachstelle leiten, kommt immer sehr gut an. Ich finde es – als Lehrerin und als Mutter – wichtig, dass es solche Angebote gibt und dass sie weiter ausgebaut werden. Deshalb engagiere ich mich im Vorstand.

Gibt es schon Themen, Projekte oder Ideen für die nächste Zeit, die der Vorstand als Ganzes ins Auge gefasst hat?
Jacqueline: Noch nicht, aber bald. Vorderhand geht es darum, dass wir uns neu formieren können und alle ihren Platz finden. Dann wissen wir, wer wir sind und wohin wir wollen – als Verein, aber auch als Arbeitgeber.

Kerstin: Eines meiner Ziele wäre, wie auch Jacqueline gesagt hat, dass die Fachstelle bekannter wird. Bei unserer anonymen Sprechstunde im Spital beispielsweise merken wir tagtäglich, wie enorm der Rede- und Informationsbedarf ist. Viele trauen sich nicht, Fragen zu sexuell übertragbaren Krankheiten zu stellen oder offen über ihre Sexualität zu sprechen. Die AHSGA ist dafür die ideale Anlaufstelle.

Seit Mai seid ihr drei Frauen im Vorstand, vorher war nur eine von neun Personen weiblich. Erhofft ihr euch etwas von dieser neuen «Frauenpower»? Gibt es Themen oder Diskussion, die aus eurer Sicht dringend angegangen werden müssten?
Jacqueline: Bei meinen ersten Sitzungen sind die schwulen Männer immer sehr im Vordergrund gestanden. Ich würde da gerne einen Ausgleich schaffen und die gleichgeschlechtliche Liebe bei Frauen wie Männern gleich stark gewichten. Mir ist natürlich klar, dass dieser männliche Überhang auch historisch bedingt ist: Der Verein wurde einst vorwiegend von schwulen Männern gegründet, aber nun ist es an der Zeit, auch den Frauen Gewicht zu geben.

Colette: Hat diese männliche Prägung nicht auch damit zu tun, dass Schwule einfach einem grösseren Risiko ausgesetzt sind, wenn es um Aids und HIV geht?

Kerstin: Aus fachlicher Sicht kann ich das nur bestätigen. Ein Grossteil derer, die zu uns in die Sprechstunde kommen, Fragen haben oder sich testen lassen wollen, sind Männer.

Könnte es auch damit zu tun haben, dass die schwulen Männer im Kampf für die Homosexualität früher einfach sichtbarer und präsenter waren? Lesbische oder bisexuelle Frauen stehen bis heute eher im Abseits, habe ich den Eindruck …
Jacqueline: Das sehe ich auch so. Lesbisch zu sein ist eher noch ein gesellschaftliches Tabu. Erst kürzlich habe ich in einer Studie gelesen, dass Frauen viel länger warten, bis sie den Schritt an die Öffentlichkeit wagen. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Männer sich weniger scheuen oder diskriminiert fühlen.

Kerstin: Da bin ich mir nicht so sicher. Ich erlebe Männer, die sich nicht richtig trauen, alles zu erzählen – was wichtig wäre für die Beratung bei uns. Ich glaube, manche kommen erst, wenn sie gewisse Beschwerden und Ängste nicht länger ignorieren können. Dass wir vergleichsweise wenig Frauen sehen, könnte auch daran liegen, dass sie bereits von einem Gynäkologen oder einer Gynäkologin betreut werden.

Colette, du arbeitest mit migrantischen Jugendlichen. Jürg Bläuer von der Fachstelle sagte letztes Jahr in einem Saiten-Interview, dass das Thema Homosexualität bei dieser Anspruchsgruppe zunehmend wichtiger wird. Wie sind deine Erfahrungen?
Colette: Bis jetzt ist das bei uns kein Thema – weil Homosexualität nicht wirklich thematisiert wird. Unsere Schülerinnen und Schüler reden von sich aus nicht über solche Dinge. Diese schwer einzuordnende Haltung erlebe ich unabhängig von der Herkunft der Jugendlichen, und das hat auch jüngst eine AHSGA-Studie gezeigt: Viele sagen zwar, sie hätten kein Problem mit Homosexualität, aber nur solange sie selber keine schwulen oder lesbischen Bekannten haben. Wir reden wohl über Rollenbilder in der Schule, aber alles andere ginge bei acht Lektionen Unterricht pro Woche zu weit, denke ich. Und der Aufklärungsunterreicht wird ja ohnehin von den Profis der Fachstelle abgedeckt.

Ist es nie vorgekommen, dass du eine Person in der Klasse hattest, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung flüchten musste?
Colette: Nein. Jedenfalls ist mir kein solcher Fall bekannt. Im Moment haben wir viele Junge aus Eritrea, die haben andere Fluchtgründe. Zwei Jugendliche aus Afghanistan haben mir einmal erzählt, wie in ihrem Herkunftsland Homosexuelle hingerichtet werden, aber konkret auf mich zugekommen ist nie jemand. Ich bezweifle aber, dass sich eine betroffene Person überhaupt an mich als Lehrerin wenden würde … Und – das klingt jetzt vielleicht blöd – leider gibt es noch viel akutere Probleme, die wir zusammen mit den Jugendlichen lösen müssen, sprich Deutsch lernen, Ausbildung organisieren, Wohnverhältnisse klären etc. Die Frage nach der sexuellen Identität stellt sich darum bei vielen erst später.

Jacqueline: Und das Thema Sexualität und Aufklärung soll ja auch nicht allein an der Schule hängen bleiben, sondern mit zu den familiären Aufgaben gehören. Ich finde es enorm wichtig, dass Jugendliche auch mit ihren Eltern offen über diese Dinge reden können.

Colette: Wenn sie denn entsprechend aufgeklärte Eltern und ein liebevolles Zuhause haben …

Kerstin, ihr bietet anonyme Sprechstunden an bei der Infektiologie. Wer kommt zu euch?
Kerstin: Unsere Kundschaft ist bunt gemischt und wie gesagt vorwiegend männlich. Vom Teenager bis zum Greis ist alles dabei. In der Beratung mache ich immer wieder die Erfahrung, dass die älteren Männer viel weniger Probleme haben und deutlich offener umgehen mit ihrer Sexualität oder einer allfälligen HIV-Erkrankung. Bei den Jungen ist das ganz anders. Viele haben grosse Hemmungen und es braucht teilweise sehr lange Gespräche, damit sich jemand ein kleines bisschen öffnet.

Liegt das am Alter? An der Reife? Oder hat es mit dem vielfach beschworenen Backlash der «Generation Y» zu tun?
Kerstin: Gute Frage … Ich glaube, dass die älteren Männer in ihrem Leben mehr Möglichkeiten hatten, sich mit ihrer Sexualität und möglichen Risiken auseinanderzusetzen. Die Jungen stehen noch am Anfang dieser Entwicklung und haben sich im Gegensatz zu den älteren oft noch nicht geoutet.

Und die Frauen?
Kerstin: Die Quote bei den weiblichen HIV-Neuansteckungen in der Schweiz liegt konstant etwa bei 20 Prozent. Hier finden sich sowohl Migrantinnen, die sich in Herkunftsländern mit starker Prävalenz angesteckt haben, als auch Schweizerinnen, die sich «ganz normal» beim ungeschützten Geschlechtsverkehr angesteckt haben.

Jacqueline, du führst unter anderem auch ein Leben als Politikerin. Wo, denkst du, müsste man noch Pflöcke für eine bunte Zukunft einschlagen und sich zusammentun?
Jacqueline: Die «Ehe für alle» zum Beispiel können wir nicht ohne das Thema Adoption behandeln, finde ich. Wir müssen uns diesen Themen gegenüber aber grundsätzlich öffnen und weniger bünzlig werden. Unsere Gesellschaft gibt sich ja gern wahnsinnig weltoffen, aber wenn man ein wenig nachbohrt, ist es in vielen Fällen gar nicht mehr so weit her mit der Toleranz … Darum braucht es noch mehr Aufklärung und Sensibilisierung – schliesslich leben wir im Jahr 2017 und nicht mehr im 19. Jahrhundert! Wenn wir es schaffen, dass die Leute das Rad nicht mehr zurückdrehen wollen, sondern das, was ist, akzeptieren, haben wir schon wahnsinnig viel erreicht. Und das, ohne einen einzigen Franken auszugeben.

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